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[Titelfragment 2.1] [Titelfragment 2.2] [Titelfragment 2.3]
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Andachtszeit für Critters!

Wird das Bärtierchen-Journal womöglich nun auch noch weihnachtlich? Nein, keine Sorge: Frühoktobrige Lebkuchen und andachtsheischende Adventskerzen sind bereits in den Supermärkten ausreichend vertreten und dort passend untergebracht.

Etwas völlig anderes veranlaßt uns zu dieser Titelzeile: Bärtierchen sind zunehmend modisch geworden, so modisch, dass sie mittlerweile auch vielen Biologielehrern bekannt sind. In der Folge werden, teils auf Wunsch der stärker internetaffinen Schüler, Hausaufgaben und kleinere Schulprojekte mit einschlägigen Themen vergeben, wie etwa:

Bestimmen Sie den Prozentanteil an Bärtierchen, der einen fünfminütigen Aufenthalt in zweiprozentiger Essigsäure CH3COOH überlebt. Mit Fehlerrechnung!

Okay, dieses konkrete Thema ist fiktiv, frei erfunden, schon aus Gründen des Datenschutzes. Es basiert jedoch auf tatsächlichen Anfragen, die uns regelmäßig via Mail erreichen. Jedenfalls ergoogeln die Schüler im Laufe des Rechercheprozesses irgendwann auch mal das Bärtierchen-Journal und stellen dann die sich logisch anschließenden Fragen:

-- Wieso finde ich an meinem Heimatort XX keine Bärtierchen?
-- Mailt mir bis Ende dieser Woche brauchbare Literatur zur Artbestimmung!
-- Ich suche ein neues, interessantes Thema, das mit Bärtierchen zu tun hat


Die Schüler und Lehrer haben es auch so nicht leicht: Wie soll sich das Bärtierchen im kreuzbrav überkommenen Lehrplan neben Mitose und Meiose, neben endoplasmatischem Reticulum und den Methoden der modernen Gentechnik behaupten? Wo ist wirtschaftliche Nutzwert?

Zumindest die Antwort auf die letzte Frage fällt leicht: Die kommerzielle Betrachtungsweise greift schlichtweg nicht. Selbst wenn ein maritimes Bärtierchen noch so fleißig Sandkörner ablutscht, wird der menschliche Aktienmarkt davon nicht direkt profitieren.

Mit anderen Worten: Unsere eigentlichen Botschaften drohen in der Masse der vergangenen 185 (einhundertfünfundachtzig!) Journale unterzugehen, beispielsweise die wiederholte Aufforderung, Bärtierchen eben nicht mit mittelalterlichen Foltermethoden (Säurebad) zu behelligen.

Vielleicht ist folgendes Bild geeignet, um unsere Kernbotschaft markanter an die Frau und den Mann zu bringen?


[ Critter! ]

Critter! Ein nicht gepresstes und voll lebendiges Meeresbärtierchen im Stereomikroskop.

Möglicherweise denkt jetzt der eine oder andere: "So ein schlechtes Bild!". Und ja, das abgebildete Objekt ist tatsächlich nur sehr klein wiedergegeben. Man erkennt deshalb lediglich die äußere Gestalt, keinerlei anatomische Details. Den Perfektionisten sei zudem zugestanden, daß der ungestörte Hintergrund eines mikroskopischen Bildes selbstverständlich im Idealfall homogen und rein weiß sein sollte, jedenfalls nicht römertopfbraun.

Wir halten dieses Bild jedoch trotzdem für eines unserer besten Fotos. Es vermittelt nämlich - auch ohne Maßstab, bereits aus sich heraus - die Tatsache, daß Bärtierchen gleichzeitig sehr klein, sehr lebendig und sehr emotionsfördernd sind. Selbst in dieser winzigen Darstellung erkennen wir, wie ein mikroskopisch kleines Lebewesen mit seinen vielen Ärmchen (oder Beinchen?) nach der Welt ausgreift, wie ein Säugling, der Kontakt zu seiner Mutter sucht.

Daher auch die Titelzeile mit dem Wörtchen "Critter". Dieses wurde anscheinend im frühen 19. Jahrhundert auf den britischen Inseln erfunden. In den Dictionaries finden sich Anmerkungen, daß es sich - nicht weiter überraschend - von "creature" ableitet, jedoch zusätzlich "affectionate" (gefühlsbeladen) sei. Im Deutschen haben wir Schwierigkeiten, sprachlich zu kontern: Mit dem "Schmetterling" beispielsweise lagen wir linguistisch-lautmalerisch immer fernab vom Ziel, und das alpine "Viech" hat einen übel verächtlichen Beigeschmack.

Dem Bärtierchen-Entdecker Pastor Goeze blieb, in der Beschränkung auf deutsche Sprachmittel, im Grunde genommen keine andere Wahl, als seine Neuentdeckung Bärtierchen zu taufen. Im Verkleinerungs-Suffix kann man nun, je nach Perspektive, lediglich eine nüchterne Beschreibung der Kleinheit, aber auch eine emotionale Zuwendung erkennen, die in der Erstbeschreibung des Entdeckers durchaus mit enthalten ist.

Jedenfalls bietet die EU nun eine legitime Möglichkeit, in diesem Zusmmenhang endlich einmal das wunderbar emotionslastige Wörtchen "Critter" zu nutzen.

In diesem Sinne formulieren wir folgendes, dringend angebrachtes adventszeitliches Schlußwort:

Behandelt alle Critters so gut wie irgend möglich!
CH3 COOH und Konsorten sind - neudeutsch gesprochen - klare NoGos!


Vermutlich ähneln uns manche Critters mehr, als wir es wahrhaben wollen.



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© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach