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Das Bärtierchen-Petrischalen-Malheur

Sie lesen gerade in Journal No. 199 (in Worten: einhundertneunundneunzig). 15 Jahre lang gab es jeden Monat eine neue Kurzmeldung im Internet. Ist das nicht ein wenig übertrieben, das Thema allmählich erschöpft, so richtig ausgelutscht?

Im Grunde genommen haben wir ja schon alle Bärtierchen-Themen durch: die praktischen Mikroskopier-Tips, die Literaturhinweise, die Philosophie des kleinen Lebens, die Anatomie, die mikroskopische Technik, die Fortpflanzung, jede Menge sonderbare Arten, die Meeresbärtierchen usw.

Andererseits stellen sich beim regelmäßigen Mikroskopieren quasi automatisch immer wieder neue Themen ein. Wir müssen dazu ein wenig ausholen:

Nur unter extremen Einschränkungen lassen sich die Bärtierchen in völlig ungestörter Umgebung photographieren. Wer ist schon in der Lage, die Bärtierchen draußen, auf ihren Moospolstern live zu beobachten? Und ein in der Petrischale kopfüber gewässertes Moos ist natürlich streng genommen genausowenig natürlich wie das von uns recht erfolgreich betriebene Meerwasser-Nano-Aquarium mit seinen bescheidenen 200 cm³ "Ozean".

Ohne den Einsatz von Petrischalen und Pasteurpipetten, ohne Objektträger und Deckgläser könnten wir viele Einzelheiten und Verhaltensweisen überhaupt nicht studieren. Wer allerdings einmal erlebt hat, wie fest sich ein Batillipes-Bärtierchen an der Glasoberfläche eines Objektträgers, wohlgemerkt eines nassen (!) Objektträgers festzuklammern vermag, könnte in Versuchung geraten, auf Glas zu verzichten und beispielsweise Petrischalen aus Kunststoff einzusetzen.

Wir haben dabei folgende Beobachtung gemacht, die uns bewogen hat, Kunststoff-Petrischalen zumindest bei terrestrischen Tardigraden künftig zu vermeiden:

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Auf dem Video ist zu sehen, wie sich ein Bärtierchen mit seinem Kußmund am Boden der Kunststoff-Petrischale dauerhaft festsaugt - wir nehmen an: versehentlich. Der Film zeigt zwar nur eine kurze Sequenz, das Problem wird jedoch bei längerer Beobachtung sehr deutlich: Das Bärtierchen ist nicht in der Lage, die perfekte Saugnapf-Verbindung zwischen Mundöffnung und Petrischale wieder rückgängig zu machen. Es bleibt genauso haften wie ein Autofahrer, der sein vereistes Türschloß durch Anhauchen aufzuwärmen versucht und dabei mit den Lippen an der Metalloberfläche kleben bleibt.

Wir müssen deshalb aufpassen, unsere vermeintlichen Superman-Tiere nicht in diese miese Falle laufen zu lassen. Es kann ja auch passieren, wenn wir nicht hinschauen.


Anregungen zur Lesevertiefung und zum Nachdenken: Die intellektuell bescheidensten Bärtierchen-Traktate, naturgemäß insbesondere im Internet anzutreffen, beschränken sich auf die Darstellung der enormen "Lebenszähigkeit" nach primitivbiologischen Versuchen (Überlebensrate der Bärtierchen nach Einwirkung diverser chemischer Grausamkeiten). Zuletzt entsteht das stark überhöhte Bild eines Aliens, der sich sehr gut zur Illustration von Überraschungstüten eignet, jedoch mit der Lebensrealität genausowenig übereinstimmt wie Superman oder James Bond. Der Unterschied zu 007 besteht darin, daß der biologische Laie die Eigenschaften des Artgenossen James Bond sehr wohl als Parodie begreifen kann, es bei den Bärtierchen jedoch an entsprechenden intellektuellen Erdungsmöglichkeiten mangelt.
Ernst Marcus hat einmal beschrieben (siehe Literatur) wie in einem gläsernen Uhrglas gehaltene Batillipes-Bärtierchen gleich Lemmingen über den Wasserrand hinaus ins Freie krabbeln und dort kläglich verenden.
Und wir alle wissen aus täglicher Erfahrung, dass die Evolution mit den vom Menschen entwickelten durchsichtigen Materialien, insbesondere Glas und transparenten Kunststoffen, ihre Probleme hat: Fische, die aus Aquarien herausspringen; Wespen und Fliegen, die immer wieder vergeblich gegen eine Fensterscheibe anfliegen, obwohl die zweite Fensterhälfte direkt daneben offen steht. Vögel, die in ungebremstem Flug gegen große Fenster prallen usw.
Warum sollte es bei den Bärtierchen auch anders sein?



Literatur

Ernst Marcus: Zur Anatomie und Ökologie mariner Tardigraden. Zoologische Jahrbücher, Abteilung für Systematik, Ökologie und Geographie der Tiere  53 (1927) 487-558.
[Anmerkung: Die Textpassage zu suizidalen Tendenzen bei Batillipes findet sich auf S. 522]



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© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach