Das Bärtierchen-Journal
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Im   Juni-Journal   hatten wir das Thema 'Bärtierchenauge' angekündigt und bereits vorab eine Reihe von Literaturzitaten präsentiert, welche recht unterschiedliche Aussagen über das Konstruktionsprinzip und die Leistungsfähigkeit dieser zwangsläufig winzigen Augen enthielten.



Exkurs: "Bärtierchen sehen dich an"


[Auge in Auge mit dem Mönch]

Der Blickkontakt von Mensch zu Mensch erfüllt im täglichen Leben vielfältige Verständigungsfunktionen. Sekundenbruchteile reichen uns im allgemeinen zur schnellen nichtverbalen Abstimmung über Gefühle, Situationen und Aufgaben aus.
Die Abbildung links beweist, daß diese Mechanismen sehr tief gehen, so tief, daß wir auch mit einer, keineswegs lebendigen Bronzefigur von nur 2 cm Größe intuitiv Blickkontakt aufnehmen.
Nicht zuletzt belegen der 'Smiley' und die sogenannten Emoticons im E-Mail-Bereich, daß schon ein paar dürftige Striche Gesichter und Stimmungen symbolisieren können. Bei der Betrachtung eines Bärtierchengesichts überlagern sich deshalb alltägliche Assoziationen mit der nüchternden mikroskopischen Beobachtung. Es ist dem Amateur freigestellt, derartige Gefühle zu erlauben und zu genießen - ein Profi muß da schon eher um seinen Ruf bangen.


Natürlich müssen wir davon ausgehen, daß die Bärtierchen möglicherweise eine weniger komplexe Psyche haben als wir selbst oder ein Orang-Utang. Trotzdem ist es reizvoll, den Gefühlen nachzuspüren, welche sich bei sensiblen Menschen Auge in Auge mit dem Wasserbären einstellen.

Lesen Sie doch ganz einfach nach, was die Amateur-Mikroskopikerin Mrs. Ward empfand, als sie Mitte des 19. Jahrhundert  Blickkontakt mit einem Wasserbären hatte.

Auch Wissenschaftler haben übrigens diese Begeisterung geteilt und sich bei den Bärtierchen ausnahmsweise mal zu "unwissenschaftlichen" Charakterisierungen hinreißen lassen: mirakulös, sonderbar, merkwürdig, ja sogar hübsch   (Überzeugen Sie sich selbst und gönnen Sie sich einen kleinen Abstecher zur Internet-Mikroskopie- Zeitschrift MICSCAPE: The incredible water bear ) .



Im Mikroskop erkennen wir bei den Bärtierchen meist schwarze, manchmal auch rote Pigmentflecken im Kopfbereich, welche wir intuitiv (und zu Recht) als Augen interpretieren. Beim Fotografieren stellen wir fest, daß es meist unmöglich ist, ein Bärtierchen von den Krallenspitzen bis hin zu den Augen durchgehend scharf abzubilden. Selbst wenn wir auf die Wiedergabe der Augen ganz verzichten, erhalten wir ansprechende Bilder, welche dem Namen "Wasserbär" gerecht werden:


[tardigrades, Bärtierchen]

Echiniscus-Bärtierchen.
Körperlänge ca. 250 µm.
Die Schärfe-Ebene wurde so gewählt, daß die Augen nicht mehr zu erkennen sind.


[tardigrades, Bärtierchen]

Echiniscus-Bärtierchen.
Schärfe-Einstellung auf die Augen.


Im direkten Vergleich mit anderen mikroskopischen Organismen stellen wir fest, daß die Wasserbären den "höheren" Organismen näher verwandt zu sein scheinen, unter anderem, weil sie uns eine Art Gesicht zeigen.


[tardigrades, Bärtierchen]

Mikroskopische Ansicht mit Rädertierchen, Bärtierchen, Diatomeen und Fadenwurm.

Holzstich aus Moritz Willkomms Buch
"Die Wunder des Mikroskops" (1856).


[tardigrades, Bärtierchen]

Detail aus demselben Holzstich.
Bärtierchen mit 'Gesicht'.


Wenn wir lediglich die Pigmentflecken im Augenbereich betrachten verflüchtigt sich dieser "Gesichts"-Eindruck wieder.


[tardigrades, Bärtierchen]

Isolierte Betrachtung eines Augenfleckes bei einem Macrobiotus-Bärtierchen. Trotz des deutlich abgebildeten Pigmentfleckes fehlt uns die Symmetrie des Augenpaares mit dem typischen Signal: "Da schaut dich jemand an".


Offensichtlich durch geduldiges Beobachten hat Professor Raphael von Erlanger schon 1894 eine Beobachtung gemacht, die später anscheinend wieder in Vergessenheit geriet: Die Augenlinse bei den Bärtierchen.


[tardigrades, Bärtierchen]

Der Augenfleck eines Macrobiotus- Bärtierchens bei speziell angepaßter Misch-Beleuchtung. Schräges Auflicht in Kombination mit Durchlicht. Der rote Pfeil zeigt auf den Rand der 'Linse'. Es ist schwierig, die Reflexionseigenschaften fotografisch gut herauszuarbeiten. Trotzdem kann wohl kein Zweifel bestehen, daß es sich hier um die gleichen Strukturen handelt, welche Raphael von Erlanger bereits 1894 beschrieben und als Augenlinse interpretiert hat.


Heute kann an der Existenz der bereits von Erlanger entdeckten Augenlinse kein Zweifel mehr bestehen, wie vor allem die präparativ aufwendigen Arbeiten des dänischen Tardigradenforschers Professor Kristensen zeigen.


[tardigrades, Bärtierchen]

Moderner Nachweis der Augenlinse bei einem Echiniscus-Bärtierchen  Proechiniscus hannae .

Die Darstellung gibt einen Schnitt durch den Kopfbereich wieder (quasi von oben gesehen). Der Übergang vom Kopf zur Schnauze Schnauze ist im Bild oben links zu erkennen.
Die nur zwei Mikrometer große, asphärische Augenlinse ist in der Zeichnung hellgrau getönt, das Augenpigment rot.

Zeichnung auf der Basis eines elektronenmikroskopischen Fotos von Reinhardt M. Kristensen (Quelle siehe unten, bei Literatur).


Eine klitzekleine, wasserklare Linse im transparenten Bärtierchenkörper schlüssig nachzuweisen, ist natürlich für uns Mikroskopie-Amateure schwierig. Trotzdem ist es eine reizvolle Aufgabe, auch bei der Lebendbeobachtung nach Hinweisen auf die "Augenoptik" der Bärtierchen zu fahnden.


[tardigrades, Bärtierchen]

Bärtierchen Milnesium tardigradum. Standbild aus einem Videofilm.
Die beiden Augenpigmentflecke scheinen jeweils direkt unter glasklaren, gewölbten 'Linsen' zu liegen. Der Eindruck eines gut funktionierenden optischen Systems drängt sich geradezu auf.


Lassen wir den Entdecker der Bärtierchen-Augenlinse, Raphael von Erlanger, hier noch einmal zu Wort kommen, mit seinem bescheiden-nüchternen und noch dazu ganz kurzen Satz, wie er ihn 1894 formuliert hat:

"Ferner besitzt das Auge eine einheitliche, stark gewölbte, sehr deutliche Linse."




Literatur

Reinhardt M. Kristensen: Revision of the Echiniscidae. S. 271.
In: Roberto Bertolani (Ed.), Biology of Tardigrades. Modena 1987. S. 261 - 335.

Alexander Sokolowsky: Aus dem Seelenleben höherer Tiere. Leipzig 1910.

Moritz Willkomm: Die Wunder des Mikroskops. Leipzig 1856.

Raphael von Erlanger: Zur Morphologie und Embryologie eines Tardigraden ( Macrobiotus Macronyx). Vorläufige Mitteilung I. S. 584. Biologisches Zentralblatt 14 (1894) S. 582 - 585.


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© Text und Fotos von  Martin Mach