[Titelfragment 1.1] [Titelfragment 1.2] Titelfragment 1.3]
[Titelfragment 2.1] [Titelfragment 2.2] [Titelfragment 2.3]
[Titelfragment 3.1] [Titelfragment 3.2] [Titelfragment 3.3]



Farbe und Transparenz der Bärtierchen

Eine Internet-Bildersuche zum Thema "Bärtierchen" ergibt derzeit wohl deutlich mehr als 80% rasterelektronenmikroskopische Bilder. Diese zeichnen sich durch eine faszinierende Dreidimensionalität aus und sind lichtmikroskopischen Fotos auch in der Detailauflösung haushoch überlegen.

Es ist allerdings nicht zu bestreiten, daß das Rasterelektronenmikroskop (REM) dem Internetbetrachter gelegentlich eine stark verfremdete Realität vortäuscht: Es bildet die Bärtierchen zwangsläufig in grauer Farbe ab - Elektronen liefern nun mal keine Farbinformation. Und da bei praktisch allen Fotografen (übrigens auch hier bei uns im Bärtierchen-Journal!) naturgemäß die Knaller-Wirkung des jeweiligen Bildes im Vordergrund steht, wird das REM-Bild gerne noch nachträglich künstlich eingefärbt. Die hierfür zur Verfügung stehende Software bietet dem jeweiligen Operator allerdings nur relativ anspruchslose, quasi leicht vergiftete Malwerkzeuge. Diese können zwar Graustufen in farbige Helligkeitsstufen umsetzen, bleiben jedoch wegen ihrer uni-Farbgebung weit hinter der komplexen Realität zurück.

Da nun allerdings mindestens 99% der späteren Bildbetrachter selbst nie ein Bärtierchen im Mikroskop angeschaut haben, fällt die Künstlichkeit der Kolorierung nicht weiter auf. Man könnte sie vielleicht sogar als künstlerisches Stilmittel auffassen. Insofern ist die Kolorierung per se keine Schande.

In Verbindung mit der Naivität eines naturwissenschaftlich nicht vorgebildeten Betrachters entsteht jedoch ein Mischprodukt, das für die meisten Menschen nicht mehr als partielles Kunstprodukt erkennbar ist, sondern vielmehr als getreue Abbildung der Realität wahrgenommen wird. Ein Blick auf das folgende lichtmikroskopische Foto mag geeignet sein, die Problematik des REM in Verbindung mit einer künstlichen, vollständig deckenden Kolorierung in Einheitsfarbe nachzuvollziehen:


[ Bärtierchen auf der Spize eines Moospflänzchens ]

Lichtmikroskopisches Foto, mit Auflichtanteil: Echiniscus sp. Bärtierchen auf der Spitze eines Moospflänzchens. Der komplexe Farb- und Struktureindruck entsteht durch das Zusammenspiel von partieller Transparenz (Indiz: durchscheinende Linie des grünen Magen-Darm-Trakts, tief im Inneren), rötlich-gelber Körper-Innenvolumenfüllung sowie den Interferenzen an der mikroskopisch dünnen, skulpturierten "Haut" (Farben dünner Plättchen -Effekt).

Das obige Bild portraitiert in einer Weise, die wohl der natürlichen, menschlichen Wahrnehmung am nächsten kommt - unter Auflichteinwirkung. Wir sollten nun allerdings nicht der Versuchung erliegen, womöglich das Lichtmikroskop generell als moralisch gut und das REM als böse verfremdend zu werten.

Ein Blick auf unser Intro-Video mag als Indiz geeignet sein um zu verstehen, daß auch das klassische Durchlichtmikroskop einen etwas verfremdenden Bildeindruck erzeugen kann. Im vorliegenden Fall wird dank des Durchlichts der "Röntgenblick" auf die innere Anatomie des Bärtierchens samt seinen Mundwerkzeugen, Speicherzellen usw. akzenturiert. Wegen der Dominanz des Durchlichts bleibt die Außenhaut auf der Strecke, sie wird einfach ausgeblendet.

Das Rasterelektronenmikroskop läßt das Pendel in die entgegengesetzte Richtung ausschlagen. Es bildet die Bärtierchen, wohlgemerkt nach dem Abtöten, nach Art eines grauen, mehr oder weniger verschrumpelten Staubsaugerbeutels ab - als reine Oberfläche, ohne jegliche Tiefe, Transparenz oder Farbe. Da insbesondere die Augen der Bärtierchen unter der Hautoberfläche liegen und Elektronen nur eine extrem geringe Eindringtiefe haben, kann das Rasterelektronenmikroskop die Augen leider nicht einmal ansatzweise zeigen. Der für die menschliche Wahrnehnung und mentale Einordnung wichtige Gesichtseindruck bleibt deshalb auf der Strecke, er kann lediglich ansatzweise durch präparationsbedingte "Augenfalten" (zum Beispiel durch ein Einziehen der Schnauze beim Sterben) substituiert werden.

Der Bärtierchenforscher Ferdinand Richters sprach bei Milnesium tardigradum zu Recht von einem anatomischen "Glashaus". Das Video unten illustriert die in dieser Hinsicht große Überlegenheit des klassischen Lichtmikroskopes:


mp4 to ogg by EasyHtml5Video.com v3.5

Lichtmikroskopisches Video, gemischtes Auflicht: Kopfregion des Bärtierchens Milnesium tardigradum in natürlicher Bewegung. Nur das Lichtmikroskop zeigt den kompletten Mundapparat und die innenliegenden Augen samt ihren gewölbten Linsen (!).
Die Elektronen des Rasterelektronemikroskopes würden hier bereits am äußersten Tausendstel Millimeter scheitern. Sie können den Lichtstrahlen auf ihrem Weg ins Innere des Bärtierchens nicht folgen. Und, eigentlich müßig zu erwähnen, aber wichtig: Das Töten des Bärtierchens für die elektronenmikroskopische Präparation erschwert naturgemäß die Anfertigung eines lebensnahen Bewegtvideos ...
Die REM-Betrachtung scheitert nicht nur an der Darstellung der geschmeidigen Bewegungen, sondern darüber hinaus auch an vielen anderen, durch Bewegung gekennzeichneten Lebensvorgängen. Der direkten Beobachtung enziehen sich beispielsweise: die Bewegung der inneren Muskulatur und der Stilette, die Nahrungsverarbeitung in Mundapparat und Verdauungssystem, das Flottieren der Speicherzellen im Körperinnenraum, die Eiablage in der Cuticula, die Zellteilung und weitere Entwicklung im Ei, das Schlüpfen der Jungtiere in der Cuticula sowie sämtliche Vorgänge in Zusammenhang mit der Häutung.

All dies soll natürlich nun nicht in eine Schlammschlacht gegen das womöglich "böse" Rasterelektronenmikroskop münden. Es sollte uns jedoch als Warnung dienen, nicht nur im Internet nach bequemen Bildchen zu surfen, sondern vielleicht auch mal selbst einen Blick in die Lebensrealität zu werfen.

Ein bärtierchentaugliches Mikroskop, für das man früher ein stolzes Monatsgehalt hinblättern mußte, bekommen Sie heute mit etwas Glück bei Ebay für einen Hunni nachgeworfen. Und das bärtierchensanfte LED-Licht kann von einer IKEA "Jansjö"-Lampe für schlappe 10 Euro kommen.

Es ist schon ein bizarrer Witz, daß die aktuelle Konsumwerbung die sekundäre Realität des Internet als primäre Realität zu verkaufen sucht. In diesem Sinne enden wir mit einer angepassten, klassisch neudeutschen Werbe-Aufforderung:

"Be inspired and buy as much as you can - but don't miss the real thing!"



Hauptseite



© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach