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Lupen für Fortgeschrittene (VI): "Schmeichelhafte" Beschriftungen

Wie bereits des Öfteren ausgeführt, eignet sich eine 10fach Lupe mit leicht blaulastiger LED-Beleuchtung am ehesten zum Auffinden von Bärtierchen vor Ort, im noch trockenen Moos: Der Nutzer kommt bei nicht allzu hoher Vergrößerung in den Genuss eines weiten Sehfelds, profitiert von einer praxisgerechten Schärfentiefe und kann - wegen des blauen Aufleuchtens der "Tönnchen" - schnell erkennen, ob ein Moospolster stark mit Bärtierchen besetzt ist oder nicht.

Der Nutzwert noch höherer Vergrößerungen kommt in dieser Situation nicht zum Tragen: Eine - zwangsläufig - geringere Schärfentiefe erschwert die ohnehin knifflige Sucharbeit vor Ort. Und selbstverständlich wird man mit nur noch 5 mm bis 10 mm Arbeitsabstand auch beim Durchmustern von wassergefüllten Petrischalen eher Taucherfahrungen sammeln als Erkenntnisse gewinnen!

Allerdings locken im Internet nach wie vor reichlich Angebote mit höher vergrößernden Lupen, häufig zu gesalzenen Preisen. Und genau auf diese zielt letztendlich unsere kleine Serie Lupen für Fortgeschrittene. Beginnen wir mit dem Blick auf das Cover eines klassischen "Taschenlupen-Buchs":


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Abb. 1: William James Wintles "Recreations with a pocket lens" (London, 1911) ist ein kleines Büchlein, bei dem, wie der Titel schon andeutet, ausschließlich eine Taschenlupe vorausgesetzt wird. Man beachte, dass auf dem hier gezeigten Buchcover eine klassische Doppel-Einschlaglupe abgebildet ist: Am einen (im Bild oberen) Ende dieser Lupe befinden sich zwei schwach vergrößernde, relativ große Linsen mit schätzungsweise jeweils ca. 5facher Vergrößerung, die zusammen, und dann mit zwischenliegender Blende, eine mutmaßlich 10fache Vergrößerung ergeben sollten. Am anderen Ende der Lupe erkennen wir ein weiteres, fast schon neckisch anmutendes, vermutlich etwa 20fach vergrößerndes optisches Element. Dies ist quasi die "Luxuslinse", deren Gebrauchswert naturgemäß für die meisten Anwendungen eher gering ist, jedoch die formidable Kennerschaft und Grandezza des Eigentümers unterstreicht!

Wintles Buch enthält eine "Pond life"-Illustration, auf der auch zwei Bärtierchen zu sehen sind. Der Autor geht jedoch - bezeichnenderweise - im Text nicht auf die Bärtierchen ein. Klar, wir kennen den Grund: Die Bärtierchen sind einfach verdammt klein, eher ein Fall fürs "richtige" Mikroskop. Und Lupen mit LED-Licht gab es im Jahr 1911 noch nicht.


[ Ultra-Einschlaglupe ]

Abb. 2: Das "Pond life"-Bild, in Wintles Buch auf Seite 89, zeigt einen wunderbar idealisierten Wassertropfenkosmos, mit so ziemlich allem was dazugehört: Melicerta ringens, Stentor, Volvox, Diatomeen usw.

[ Ultra-Einschlaglupe ]

Abb. 3: Hier, im Detailausschnitt sind zwei Bärtierchen zu sehen, die an einem Tausendblattstengel herumklettern.

Der laienhafte Wunsch nach möglichst preiswerten, möglichst hoch vergrößernden Lupen wird im Internet auf eine Weise befriedigt, die beim ersten Blick nicht so ganz koscher erscheint: Den in der Regel völlig ahnungslosen Kunden offeriert man häufig ganz einfach falsch beschriftete Lupen. Diese kombinieren das luxuriöse Gefühl einer vermeintlich starken Vergrößerung mit der Benutzerfreundlichkeit einer 10fach Lupe - weil es sich in der Regel nur um schlichte 10fach Lupen handelt. Im direkten Vergleich offenbaren sich viele Beschriftungen sehr schnell als augenzwinkernde Fakes:


[ Ultra-Einschlaglupe, Optikfassung  ]

Abb. 4: Hier liegen eine angebliche 10x, 20x und 30x Lupe auf einer Glasscheibe, knapp 3 cm über einem Millimeterpapier. Es ist offensichtlich, dass die optischen Eigenschaften praktisch identisch sind! Letzendlich nicht ernst zu nehmen, eine Art Idiotentest für unbedarfte Käufer. Und klar, das "TRIPLET" repräsentiert, wie sattsam bekannt und häufig bejammert nur einen Markennamen. Es steuert, ergänzend zur falschen Vergrößerungbeschriftung, noch die Illusion einer hochwertigen Triplett-Optik bei.

Zumindest zwei der drei oben gezeigten Lupen müssen somit falsch beschriftet sein. Die Optik besteht, wie man durch simples Aufschrauben feststellen kann, bei den drei Kandidaten aus ein- und derselben (einkomponentigen) Zylinderlinse. Diese vergrößert etwa 10fach, keinesfalls 20- oder 30fach. Mit einer derartigen Lupe kann man durchaus winzige Spinnenbeine abzählen oder auch den sadistischen Waschzettel eines Medikaments studieren.
Die - möglicherweise von moralinsauer angehauchten Käufern unterstellbare - Täuschung hält sich jedoch in Grenzen: Die hier gezeigte, angebliche "30x" Lupe mit 21 mm freiem Linsendurchmesser (!) würde sich ohne Abblendung ihr Bild selbst verderben - sie kann aus physikalischen Gründen einfach nicht funktionieren. Dem optisch unbedarften Kunden bleibt deshalb immerhin der Traum von der hohen Vergrößerung erhalten - und der praktische Nutzwert geht angesichts des moderaten Preises immer noch in Ordnung.


Es sind nun allerdings keineswegs alle mit "30x" beschrifteten Lupen als hoffnungslos irreführend einzustufen, wie der folgende Vergleich belegen mag:


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Abb. 5: Eine silbergraue "30x17" Lupe und eine rotgolden eloxierte "30x36" Lupe, letztere mit einem geradezu traumhaft professionell laufenden Schraubgewinde. Der elegante metallische Rotgoldglanz bedingt übrigens eine fotografische Herausforderung, an der wir kläglich gescheitert sind.

Beide in Abb. 5 gezeigten Lupen sind nicht korrekt beschriftet. Der Käufer erhält jedoch durchaus solides, funktionsfähiges Glas und Metall für sein Geld:

Die Linsen der silberfarbenen "30x17" Lupe sind offensichtlich vergütet. Inliegend befindet sich keinesfalls, wie der chronisch misstrauische Westler argwöhnen könnte, eine simple Zylinderlinse, sondern ein ernsthaftes Dreilinsen-System. Es besteht aus einem verkitteten Dublett, einem Abstandshalterring und einer weiteren, bikonvexen Linse - repräsentiert somit das vielfach versprochene und keineswegs immer gelieferte, stolze Triplett. Tatsächlich zeigt sich dann beim Durchschauen auch ein absolut klares, farbreines Bild, wenn auch mit deutlich reduzierter Randschärfe - die jedoch bei dreidimensionalen biologischen Beobachtungen erfahrungsgemäß nicht ins Gewicht fällt. Der Arbeitsabstand (Objekt - objektseitiger Lupenfassungsrand) beträgt ca. 5 mm. Die Vergrößerungswirkung beim Normbetrachtungsabstand von 25 cm liegt bei rund 20x, ist deshalb mit "30x" etwas zu vollmundig spezifiziert. Visuell aufgelöst wird die 10 Mikrometer-Teilung eines Objektmikrometers - was in etwa der Abbildungsleistung einer guten 20x-Lupe entspricht. Wie bereits im letzten Journal beim Octoscop geschildert, behindert auch hier eine breitrandig zylindrische Fassung den optimalen seitlichen Lichteintritt. Die "30x17" Lupe liegt jedoch gut in der Hand, fühlt sich angenehm an und ist optisch den in Abb. 4 gezeigten Instrumenten haushoch überlegen. Das"Mande in Germany" entbehrt nicht einer gewissen Ironie, knüpft immerhin an eine lange Tradition der Wertschätzung beim internationalen und deutschen Käufer an.

Die "30x36" Lupe verfügt de facto nur über eine etwa 10fache Vergrößerung, schummelt insofern, was die Beschriftung angeht, deutlich frecher. Das eigentliche Rätsel und Orakel all dieser Lupen scheint uns jedoch in der Zweikomponenten-Charakteristik der Beschriftungen zu liegen: Während traditionelle Lupen meist nur eine Zahl nennen und damit eben lediglich die Vergrößerung spezifizieren, findet sich auf den fernöstlichen Produkten meist noch eine zweite Zahl, die man - analog zum 8x30 Feldstecher - wohl in der Regel als eine Art Öffnung oder nutzbaren Linsendurchmesser lesen muss.
Andererseits könnte ein cleverer Verkäufer im Falle der 30x36-Lupe argumentieren, die beiden Zahlen signalisierten ganz einfach die Außenmaße einer ganz normalen 10fach Lupe, weil angesichts der voluminösen Bauform nur ein zahlengeiler Naivling noch ernsthaft an eine 30fache Vergrößerung glauben könnte!
Egal, die zwei enthaltenen Bikonvex-Linsen ergeben jedenfalls ein schön klares, wenn auch nicht farbreines Bild und man hält etwas Grundsolides, Metallisch-Gläsernes in der Hand. Der Arbeitsabstand (Objekt - objektseitiger Lupenfassungrand) beträgt ca. 2 cm, was mit den typischen Charakteristika einer 10fach Lupe übereinstimmt. Aber, und falls es nicht ohnehin klar sein sollte: Eine 10 Mikrometer-Teilung lässt sich bei 10facher Lupenvergößerung nicht mehr auflösen. Schuld daran ist nicht die Lupe, sondern das begrenzte Auflösungsvermögen des menschlichen Auges - die Vergrößerung ist schlichtweg zu gering.


Ergänzend und erdend festzuhalten wäre an dieser Stelle wohl noch, dass alle oben gezeigten Lupen auflösungsmäßig nicht an den im letzten Journal vorgestellten Lupen-Champion von Winkler & Wagner herankommen. Erstaunt hat uns allerdings auch die Tatsache, dass so manche noch ältere Lupe britischer Herkunft in dieser Konkurrenz gut mithalten kann, so dass wir uns keineswegs immer zwanghaft an die moderneren Tripletts klammern müssen:


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Abb. 6: Schematischer Strahlengang und Abbildung einer winzigen, stark vergrößernden Brewster-Lupe in der älteren Fachliteratur
(Bildquelle: Jabez Hogg, The Microscope , S. 26 (London 1854)


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Abb. 7: und hier im Foto ein überlebendes Exemplar dieser Gattung. Die tatsächlich erzielbare, quasi ehrliche Vergrößerungswirkung schätzen wir auf etwa 25x.

Man beachte, dass es sich lediglich um einen - vermeintlich - eher bescheidenen Einlinser handelt. Dieser trägt allerdings den in Abb. 6 illustrierten "Schwarzen Gürtel" (eine rundum verlaufende Einschnürung in der Optik). Nicht zuletzt deshalb löst auch dieser Winzling die feine Teilung unseres 10 Mikrometer-Maßstabs ohne Probleme auf.

Wie bereits früher erklärt, ist bei stark vergrößernden Lupen ohne eingebaute Beleuchtung der freie seitliche Lichtzutritt von entscheidender Bedeutung. Die Optik der Brewster-Lupe wird deshalb lediglich von einem klugen Hauch feinen Silbers umkleidet. Auf diesem Gerät finden sich bezeichnenderweise weder eine Beschriftung noch ein Silberstempel - Ehrensache und feines Understatement - quasi for Lords only!



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© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach