Hierbei ergibt sich ein erkenntnistheoretisches Paradox:
Bildet nicht doch die grünstichig verfärbte Uraufnahme das Szenario maximal
realitätsgetreu ab, während das Ergebnis der Bildverarbeitung sehr viel
weniger ehrlich ist, kosmetisch geschönt wie das Konterfei eines Cover-Girls?
Unser Eindruck vor Ort ist ja maximal authentisch, aus Perspektive eines Schnorchlers,
mit leicht beschlagener Taucherbrille, im natürlichen, deshalb auch nicht allzu
hellen, deutlich grünstichigen Licht.
Die Kamera machte sich das Leben hingegen sehr viel leichter, richtete einfach
ihren Blitz auf den Oktopus. Dank der zusätzlichen Lichtfülle konnte
sie sehr viel mehr Details abspeichern. Diese Details kamen dann hinterher,
mittels kontrastverstärkender Bildverarbeitung wieder zum Vorschein.
Beide Betrachtungsweisen, nennen wir sie mal A und B, haben somit
eine gewisse Berechtigung. Und sie liegen beide in einer Hinsicht falsch:
Suggerieren sie doch dem Betrachter, dass der Oktopus in sanft ansteigender
Hanglage, Arme nach unten, fotografiert worden sei! Dies war jedoch nicht der
Fall - der Oktopus lag nämlich flach ausgestreckt auf einem horizontalen Kiesboden.
Die vermeintliche Schräglage resultiert lediglich aus einer sehr ungewöhnlichen
fotografischen Haltung, wie sie für fotografierende Schnorchler typisch ist -
Fokus nach schräg unten. Das Hirn des Bildbetrachters münzt die schräge
Kamerahaltung hinterher eigenmächtig in einen schrägen Untergrund um!
Die nahe liegende Auflösung des nur scheinbaren Dilemmas zwischen Sichtweise A
und Sichtweise B liegt in einer Summenbetrachtung, nennen wir diese einfach X (und nein,
Elon Musk ist hier ausnahmsweise mal nicht gemeint): A und B stehen für
partielle und spezielle Betrachtungsweisen in ein- und demselben Szenario.
Wir könnten insofern ohne Weiteres eine zusätzliche Sichtweise C
(Betrachtung des Oktopus im UV-Licht), eine Sichtweise D (Betrachtung des Oktopus
in anderer Gemütslage, mit dementsprechend anderer Farbigkeit) und weitere hinzufügen.
Teilwahrheiten einer Summenwahrheit.
Auch am Mikroskop sollten wir uns der Tatsache bewusst sein, dass wir der Natur mit
sehr speziellen, letztendlich unnatürlichen Betrachtungsweisen zu Leibe
rücken: Krasses Gegenlicht ("Hellfeldbeleuchtung"), im Extremfall
sogar polarisiertes Licht, Phasenkontrastbeleuchtung, Differentialinterferenzkontrast,
unnatürlich flache Objektvolumina etc. pp.
Damit soll nun keineswegs gesagt sein, dass die genannten Methoden
und ihre Ergebnisse falsch sein müssten - sie illustrieren jedoch allesamt
unterschiedliche Facetten ein- und desselben Objekts. Im Hinblick auf Abb. 1
könnten wir insofern die Fragestellung wie folgt formulieren:
Wie viel Blau bzw. wieviel Blaues Ei liegt hier vor? Spiegelt uns die
blaue Linie womöglich nur etwas vor, ist sie lediglich eine
"kontrollierte Halluzination" im Sinne des Hirnforschers Anil Seth?
Im nächsten Journal werden wir die blaue Linie in diesem Sinne eingehender
betrachten.
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