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Im Januar-Journal konnten wir anhand der Fotoserie beobachten, wie ein Bärtierchen bei Wasserzutritt in Minutenschnelle vom scheinbar völlig unbelebten Trockenzustand zu quicklebendiger Aktivität zurückfindet. Angesichts des äußerst geringen Wassergehaltes der Trockenformen (ca. 2%) bezweifelt heute niemand mehr, daß der Stoffwechsel in den Tönnchen völlig zum Erliegen kommt: Enzymatisch gesteuerte, chemische Reaktionen sind bei derart extremer Trockenheit nicht mehr möglich.


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Rotes Echiniscus-Bärtierchen in Trockenform.
Idealzustand nach Eintrocknung
unter günstigen Bedingungen.
Bauchseite



Die Definitionslücke
Der ein oder andere Leser wird sich aus seiner Schulzeit noch an den Linder erinnern, ein solides, schön illustriertes Lehrbuch der Biologie. Auf Seite 3 im Linder lesen wir:

Alle Lebensvorgänge sind mit chemischen Umsetzungen verbunden.
Kommen diese Vorgänge zum Stillstand,
dann hört auch die Amöbe auf zu leben;
der Stoffwechsel ist daher ein Kennzeichen des Lebens.

Bereits sehr früh haben scharfe Denker festgestellt, daß derartige Lehrbuch-Definitionen die Bärtierchen-Trockenformen klar der nicht lebendigen Welt zuordnen oder dem Tod gleichsetzen, weil eben der Stoffwechsel zum Stillstand kommt.
Crowe (s.u. bei Literatur) geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er feststellt, daß ein Bärtierchen, wenn es nicht mehr aus der normalen Trockenstarre erwacht, gemäß den gängigen Lebensdefinitionen womöglich nach dem Tod noch einmal gestorben sein könnte!
Crowe weist als einfache Lösung aus diesem Dilemma folgenden Weg: Es ist falsch, Leben und Stoffwechsel in der Definition des Lebens so direkt miteinander zu verknüpfen. Leben kann, aber muß eben nicht mit ständigem Stoffwechsel verknüpft sein. Viel besser als Charakteristikum zur Definition des Lebens geeignet sind die hoch geordneten, komplexen organisch-chemischen Strukturen, welche die   Möglichkeit  des Lebens in sich tragen. Der Tod wäre gemäß diesen Definitionen erst nach der Zerstörung (oder dem Zerfall) der hochorganisierten Strukturen anzunehmen.

Die wichtigsten Fakten zur Trockenstarre
Die folgenden Ausführungen basieren größtenteils auf dem bereits genannten Artikel von Crowe. Auch für den Mikroskopie-Amateur ist es wichtig zu verstehen, daß die Bärtierchen für die enorme physiologische Leistung des Eintrocknens und Wiedererwachens ein gewisses Minimum an Zeit und geeignete Randbedingungen benötigen. Es wäre deshalb ausgesprochen hirnlos und unfair, die Tiere z.B. in einem zentralbeheizten Raum auf einem Objektträger schutzlos eintrocknen zu lassen. Sie würden eine derart unüberlegte und ihren normalen Lebensbedingungen nicht entsprechende Attacke nicht überleben. Unter natürlichen Bedingungen, besonders in den Moosen vollzieht sich das Austrocknen langsam und bei gleichmäßig hoher relativer Luftfeuchte. Es sieht so aus, als würden sich z.B. die Bärtierchen in austrocknenden Grimmia-Moosen bewußt von den sich zopfartig zusammenrollenden Blättern wie in einen Schlafsack einwickeln lassen. Auf diese Weise bleibt für das Austrocknen mehr Zeit. Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum die Tönnchen in den Moosen so schwer zu finden sind. In der Regel verstecken sie sich zwischen den Blättern, so daß auch ein hoch motivierter Lichtmikroskopiker sie nicht ohne weiteres finden kann. Es verwundert nach dem oben Gesagten nicht, daß in den Experimenten von Crowe eine Mindestluftfeuchte von 80% (r.F.) für ein schonendes Austrocknen ermittelt wurde. Interessanterweise ist auch bei der Wiederbelebung eine vorherige Feuchtlagerung für den Erfolg mit entscheidend. Die Haut des Bärtierchens selbst verhindert ebenfalls ein zu schnelles Austrocknen: Zunächst wird bei der Tönnchenbildung durch Einziehen von Kopf, Hinterleib und Gliedmaßen die äußere Oberfläche verkleinert und weiterhin die Wasserdampfdurchlässigkeit der Haut verringert. Die inneren Organe werden dicht gepackt, so daß sie sich bei noch weitergehender Verformung nicht zu stark deformieren.


Ein wenig Bärtierchenchemie (nach Crowe, siehe unten bei Lit.)


[Trehalose]

Molekülmodell des Disaccharids Trehalose; schematisch, in Anlehnung an die Haworth-Projektion. Die exakte räumliche Struktur ist ein wenig unübersichtlicher. Trehalose wird auch als natürlicher Bestandteil der Moose genannt (Römpps Chemie-Lexikon).
Rot: Sauerstoffatome
Weiß: Wasserstoffatome
Blau: Molekülgerüst aus Kohlenstoffatomen

[Glycerin]

Molekülmodell von Glycerin. Glycerin ist eine wasserklare, schwerflüchtige Verbindung, welche mit Wasser beliebig mischbar ist. Die kleinen Pünktchen deuten die Elektronenwolken an, so daß man sich eine bessere Vorstellung vom Raumbedarf des Moleküls machen kann. Glycerin bewirkt unter Umständen auch eine Elastifizierung des durch die Austrocknung versprödenden Gewebes.

[Glykogen]

Molekülmodell von Glykogen (schematisch). Jeder Ring gehört zu einem Glukose(=Traubenzucker)-Molekül, welche miteinander verknüpft den großen Molekülverbund des Glykogens bilden. In Wirklichkeit besteht das Glykogen aus viel mehr Glukosebausteinen. Man kann sich gut vorstellen, wie in Notzeiten ähnlich wie beim rippenweisen Verzehr einer Tafel Schokolade nach und nach energiespendender Traubenzucker abgebaut und verbraucht wird.


Wie die moderne Forschung gezeigt hat, folgt nun eine Reihe ganz besonderer chemischer Tricks und Kniffe, die hier kurz erklärt werden sollen, wenn auch vielleicht das ein oder andere Detail nach Meinung der Experten noch nicht ganz gesichert ist:
Während des Austrocknens findet sich in den Bärtierchen eine zunehmende Menge an  Trehalose . Das noch verbliebende Wasser im Körperinneren wird u.a. durch Trehalose ersetzt, wodurch sich der biochemische Entwässerungsschaden im molekularen Bereich in Grenzen hält. Die Trehalose gehört zu den nicht reduzierenden Disacchariden, d.h. sie kann mit dem Gewebe ein oxidationsstabiles System bilden.
Weiterhin hat man festgestellt, daß beim Austrockenen der Bärtierchen große Mengen an  Glycerin  gebildet werden. Wie man weiß, ist das nur wenig flüchtige Glycerin mit Wasser beliebig mischbar und kann es in mancher Hinsicht ersetzen. Man sagt dem Glycerin auch die Fähigkeit nach, oxidative Abbaureaktionen als sogennanter Radikalfänger zu hemmen (Wirkung als Konservierungsmittel).
Der hohe Energiebedarf beim Eintrocknen und Regenerieren wird durch   Glykogen  gedeckt, welches für derartige Situationen als Energievorrat von den Bärtierchen in speziellen Speicherzellen angereichert wird, ähnlich wie beim Menschen das Fett in den Fettzellen oder ebenfalls Glykogen in der Leber.


Nach dem diesmal vielleicht ein wenig trockenen Stoff wird das März-Journal wieder bunter: Wenn Sie Zeit und Interesse haben, können Sie hier in der nächsten Ausgabe des Journal eines der frühesten Bärtierchen-Farbporträts ganz umsonst bestaunen. Bleiben Sie dran!




Literaturverweise

John H. Crowe: The physiology of cryptobiosis in tardigrades. Memorie dell' Istituto Italiano di Idrobiologia 1975, S. 37-59 (Anm. d. Verfassers: Wer Zeit hat, sollte diesen wunderschön klar geschriebenen Artikel unbedingt im Original lesen).
Hartmut Greven: Die Kryptobiose der Bärtierchen. Mikrokosmos 62 (1973) S. 65-69.
Hermann Linder: Biologie. Lehrbuch für die Oberklassen der höheren Schulen. 13. Auflage. S. 3. Stuttgart 1963.



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© Text, Abbildungen und Molekülmodelle von  Martin Mach