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Ein altes Tele-Mikroskop = Freude am mikroskopischen Gadget!

Weihnachten und Silvester sind hoffungslos anthropozentrisch ausgerichtet. Als (furchtbar) ernsthafte Mikroskopiker meinen wir hingegen aktiv, quasi losgelöst von unserem Selbst und unseren liebenswert-lästigen Mitmenschen beobachten zu können. Schließlich interagieren wir unter dem Mikroskop ja vorzugsweise mit der nicht-menschlichen Biologie, und dies - selbstverständlich - auf eine makellos objektive, beinahe wissenschaftliche Art und Weise!

Jedoch verraten unsere vielgeliebten Instrumente so manches, was wir eigentlich gar nicht preisgeben wollten: Der Wunsch nach dem ultimativen Mikroskopie-Erkenntnis-Gadget birgt immer auch eine soziale Komponente in sich - sei es nun das Bedürfnis nach dem Alleinbesitz eines optischen Wunderwerkzeugs oder auch nur der soziale Show-Effekt, den man in ähnlicher Weise mit einer protzigen Armbanduhr erreichen könnte.

Vor einigen Monaten gelang es uns, ein besonders schönes Exemplar dieser Mikroskopie-Gadgets zu beschaffen (siehe Abbildungen unten). Eigentlich überflüssig zu erwähnen, dass hier die spielerische Komponente im Vordergrund steht. Und natürlich ist das gezeigte Gerät, wie so vieles Andere auch, für die Bärtierchen-Betrachtung nur eingeschränkt tauglich. Aber: Der Inhalt einer Petrischale lässt sich damit sehr wohl inspizieren, und zwar besser als mit einer Einschlaglupe.


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Abb. 1: Fernglas-Mikroskop-Kombination ("Telemikroskop") eines unbekannten Herstellers. Alter: vielleicht vor 1930? Der Okulareinblick befindet sich mittig an der einen Stirnseite des Geräts (im Bild oben). An der gegenüber liegenden Stirnseite sehen wir das dezentrisch angebrachte, achromatische Objektiv sowie ein kleines Rändelrad, mit Hilfe dessen sich zwischen Fernglas- und Mikroskopfunktion umschalten lässt. Das Fokusrad ist auf Abb. 1 leider nur schlecht zu erkennen, lediglich als winzige Sichel seitlich rechts am Gehäuse andeutungsweise auszumachen (vgl. hierzu Abb. 2). Das Gehäuse besteht allem Anschein nach aus vernickeltem (nicht verchromtem) Messingblech. Selbstverständlich zugehörig ist ein kleines Lederfutteral mit inwendig sauber kaschierten Nähten. Maße: ca. 60 mm x 45 mm x 20 mm, Gewicht (ohne Futteral) 84 g.

Die Fernglasfunktion erscheint durchaus brauchbar, vor allen wegen der vergleichsweise geringen, lediglich dreifachen Vergrößerung. So etwas kann auch ein Greis zitterfrei halten. Hier offenbart sich zudem eine dritte Funktion des Geräts, nämlich die einer Fernrohrlupe: Dank des Nahfokus von 50 cm können wir es als musealen Vitrinengucker einsetzen oder (im Falle altersbedingter Fernsichtigkeit) auch als Brillenersatz, für hinterhältige Druckerzeugnisse aller Art. Auf alle Fälle ist man besser bedient als mit dem notorischen Gewackle eines dümmlich konfektionierten 10x20 (das heißt, 10fach vergrößernden) Kleinfernglases vom Discounter.

Die Mikroskopvergrößerung schätzen wir auf etwa 30fach. Bei aller Begeisterung für den Winzling sei eingeräumt, dass das mikroskopische Bild leider doch etwas flau erscheint: Zur Herstellungszeit war die Vergütung von Glasoberflächen noch nicht üblich.


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Abb. 2: Ein Blick ins Innenleben des Telemikroskopes offenbart den Charme eines typischen Kleinseriengerätes aus lange vergangener Zeit. Mit Anpassungsfeilstrichen, idiotensicheren Ausfräsungen für die Positionierung der beiden winzigen Glasprismen, in einer servicefreundlichen, reversibel verschraubten Zusammenstellung. Als Werkstoffe kamen nur Glas und Metall zum Einsatz, kein Kunststoff - quasi eine zeitlich vorauseilende Reverenz an Greta Thunberg! Auf der Abbildung sind vier silberfarbene Zwischenböden aus Aluminium erkennbar, von denen einer mit Hilfe einer Messungspindel zum Zwecke der Fokussierung verschoben werden kann. Auf diese Weise verändert sich der Abstand zwischen den beiden 180°-Umkehrprismen, was wiederum auf eine Veränderung der Lichtweglänge zwischen Okular und Objektiv hinausläuft (weil nur die Strecke zwischen den beiden Prismen vom Licht dreifach durchquert werden muss). Das Ergebnis ist eine sehr originelle Innenfokussierung, bei der Okular und Objektiv in ihrer Position nicht verändert werden müssen. Zur Aktivierung der Mikroskopfunktion wird ein kleines Optikelement, vermutlich ein verkittetes Dublett, in den Strahlengang direkt hinter das Objektiv geschwenkt (in der Abbildung oben ganz rechts, in schwarzer Fassung).


Und das Resümee?

Man mag über den heutigen, praktischen Nutzwert eines derartigen Geräts geteilter Meinung sein, ja sogar spotten - und dies völlig zu Recht. Zweifellos ist es allerdings den im Internet angebotenen, kugelschreiberförmigen "2in1" Telemikroskopen qualitativ haushoch überlegen.
Etwas ernüchtern mag hingegen auf den ersten Blick die Einsicht, dass die für ca. 5 US$ ebenfalls im Internet verkloppten, streichholzschachtelförmigen LED-Taschenmikroskope aus Plastik über eine grundsätzlich vergleichbare Mikroskop-Vergrößerung verfügen. Einen immensen Vorteil gegenüber letzteren kann unser Gadget jedoch für sich verbuchen: Sein freier Arbeitsabstand misst volle 6 cm! Es ist deshalb notfalls als Taschen-Präpariermikroskop nutzbar, auch zur schnellen Betrachtung von Bärtierchen in einer Petrischale - und dies ganz ohne nasse Nasenspitze. Die kleinen LED-Mikroskope aus dem Internet hingegen eignen sich wegen ihres viel geringeren Arbeitsabstandes primär für den spielerischen Demo-Nachweis ihres eigenen, umgemein vergrößernden Wesens - zum Beispiel für die Betrachtung von Druckrastern, LED-Panels oder flachen mikroskopischen Dauerpräparaten. Auch bei der Lichtstärke dürfte unser Oldie den modernen Plastikdingsdas überlegen sein - ganz einfach weil seine Objektivlinse eine durchaus respektable freie Öffnung von ca. 12 mm aufweist.

Die gestrengen, typischerweise älteren Herrschaften in gewissen Optikforen würden die ca. 3fache Fernglasvergrößerung bestimmt als indiskutabel belächeln. Ein Fernglas muss dort unbedingt hochwertig, wasserdicht, farbrein abbildend und dementsprechend prestigeträchtig sein, quasi die Lebensleistung und Erkenntnisweisheit seines Besitzers symbolisieren. Und das ist ja auch völlig in Ordnung. Schließlich haben alle Menschen das Bedürfnis, sich irgendwie von der dumpfen Masse abzuheben. Außer acht gelassen wird hierbei jedoch meist die philosophische Komponente des Betrachtens: Genau wie der Regisseur mit seinem "Frameviewer" sieht auch der Nutzer unseres Gadgets die Welt in einer seltsam verengten, fokussierenden, verdichtenden Perspektive. Nüchtern betrachtet kommt ja beispielsweise der Feinzeichung oder exakten Farbigkeit eines Vogelgefieders leider keine außergewöhnliche Wichtigkeit zu. Sehr viel interessanter erscheint das hierbei zum Tragen kommende, merkwürdige Zusammenspiel von Homo sapiens-Erdenwurm-Betrachter-Ego und Motivausschnittswahl im - möglicherweise - unendlich weiten Universum. Ein weiterer, wunderbarer "Beweis" des eigenen Bewusstseins, welches schon für sich alleine genommen merkwürdig genug ist, durch die technikgestützte Perspektiv-Erweiterung jedoch noch genussvoller intensiviert wird!

Last but not least: Hier hat sich der unstillbare Gadgetwunsch des männlichen Homo sapiens nach einem universellen Kleingerät materiell greifbar erhalten - und dies wohlgemerkt aus einer Zeit, in der noch nicht einmal die Idee eines James Bond geboren war!



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© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach