[Titelfragment 1.1] [Titelfragment 1.2] Titelfragment 1.3]
[Titelfragment 2.1] [Titelfragment 2.2] [Titelfragment 2.3]
[Titelfragment 3.1] [Titelfragment 3.2] [Titelfragment 3.3]


Lupen für Fortgeschrittene (XV)
Oldie schlägt echtes Triplett?

Das menschliches Urteilsvermögen ist leicht manipulierbar. Hat man erst einmal in einem Kauf-Ratgeber gelesen, dass eine Lupe eben mindestens ein Triplett sein müsse, so glaubt man es auch. Die Situation ist jedoch komplizierter als man meinen möchte: Es kann eben durchaus vorkommen, dass sogar ein denkbar primitiver Einlinser dem hochgeschätzten Triplett überlegen ist - in manchen Situationen. Um dies zu demonstrieren, haben wir in unsere Grabbelkiste gegriffen und ein archaisches Objekt zutage gefördert:


[  ]

Abb. 1: Ernsthaft archaische Einschlaglupe. Einfache, bikonvexe Linse mit ca. 11 mm freiem Durchmesser. Von uns gemessene Vergrößerung: 12fach. Länge (eingeklappt) 50 mm, Höhe 10,5 mm, Gewicht 6,35 g. Im UV-Licht (365 nm) stark grün fluoreszierendes Glas.
Datierung? - gelinde gesagt schwierig.
Von der Auflösung her durchaus bärtierchentauglich!

Und, was soll man nun dazu sagen? Primitiv? Singulär? Individuell? Originell? Auf alle Fälle liegt diese Lupe ergonomisch perfekt in der Hand. Und sie fühlt sich angenehm an, nicht eiskalt wie so manch anderes verchromtes Linsenungetüm. Flach und kantenlos wie sie nun mal ist, gleitet sie leicht in jede Hosentasche. Auch hat ihre Vernietung das 20. und das einsetzende 21. Jahrhundert klaglos überstanden, ohne Wackeltendenz.

Und die 0,01 mm Teilung eines Objektmikrometers erscheint klar aufgelöst!

Wie bereits früher mehrfach erwähnt, können jedoch klassische 10fach Lupen, egal welcher Preisklasse, derart feine Teilungen nur dann visuell auflösen, wenn man sich den Bildeindruck gnadenlos schönredet. Nüchtern betrachtet verschwinden bei den 10fach Lupen die Teilstriche des Mikrometer-Maßstabs zu einem visuellen Matsch. Dies bedeutet nun nicht zwangsläufig, dass die Simpeloptik der Lupe in Abb. 1 immer "besser" wäre. Dank der höheren Vergrößerung unterstützt sie jedoch das menschliche Auge bei der Wahrnehmung winziger Details etwas effizienter als die 10fach Lupe. Und, völlig klar, das entstehende Bild erscheint wegen der Einfachlinse weder farbrein noch randscharf. Es lässt sich jedoch nicht bestreiten, dass der merkwürdige Oldie in der freien Natur überlegen wäre, wenn es lediglich darum ginge, Strukturen im 10 Mikrometer-Abstand aufzulösen!


Wir haben insofern gute Gründe, die archaischen Lupen nicht zu vergessen, ja sogar sie etwas genauer zu betrachten. Obendrein können wir Einiges über historische Materialien und Handwerkskunst lernen.

Es ist nun keineswegs immer trivial, die jeweils eingesetzten Materialien wirklich korrekt zu benennen. Bei der Lupe in Abb. 1 könnte man beispielsweise auf den ersten Blick als Gehäusematerial Holz vermuten. Mikroskopische Inspektion, spektroskopische Analyse ("Aminbanden") und nicht zuletzt die Art der Linsenfassung weisen jedoch eindeutig Richtung Horn: Horn ist nämlich ideal geeignet, um eine widerspenstige Glaslinse auf denkbar einfache Weise, ohne Gewinde, Schrauben oder Halteringe in einer simplen Lochbohrung dauerhaft einzukerkern. Bereits in kochendem Wasser weicht das Horn auf, so dass eine Linse sanft eingepresst werden kann. Beim anschließenden Erkalten zieht sich das Material wieder zusammen, so dass die Linse dauerhaft umschlossen ist.

Leider kann sich diese Eigenschaft des Horns (eine Art Formgedächtnis) auch negativ auswirken, nämlich langfristig ein unerwünschtes Zurücksinken in die alte, biologisch begründete Geometrie bewirken. Hierbei entstehen regelmäßig Verzerrungs-Risse - klassisches Erkennungsmerkmal für stark überarbeitetes Horn, auch in optischem Gerät.



Betrachten wir nun noch ein zweites, heutzutage häufig falsch bezeichnetes Gehäusematerial (siehe Abb. 2). Im doppelten Wortsinne finster wird es nämlich, wenn in Internetangeboten schwarze Lupengehäuse beschrieben werden: Dort scheint es immer nur ein einziges Material zu geben - "Bakelit".

Eine relativ primitive, jedoch manchmal wirkungsvolle Methode, um derartigen Werkstoff-Rätseln auf den Grund zu gehen, ist der Einsatz von UV-Licht, welches die dunklen Materialien besser differenziert. Nehmen wir als Beispiel ein wahres Lupenmonster:


[  ]

Abb. 2: Der "Vulkanier", eine riesige Zweilinsen-Einschlaglupe mit Zwischenblende. An den beiden Linsen konnten wir eine gleichartige, ziemlich schwache Vergrößerung von jeweils 2,65x konstatieren, dies ergibt als Summenwirkung ca. 5,3fach. Somit eher eine Leselupe und sicherlich keine Lupe für den detailgierigen (Bärtierchen-)Forscher!
Gehäuselänge (eingeklappt!) 9,5 cm, Gehäusehöhe 2,55 cm, freier Linsendurchmesser 40 mm. Gewicht 73,7 g. Mutmaßliche Entstehungszeit: 1920-1930. Man beachte die zum Größenvergleich unten rechts eingeblendete, moderne "14x" Einschlaglupe.

Bei der Betrachtung mit einer blaulichtgefilterten 365 nm UV-Taschenlampe offenbart sich ein ausgesprochen farbenprächtiges Bild:


[  ]

Abb. 3: Die Lupe von Abb. 2 im UV-Licht. Das im sichtbaren Licht homogen dunkel erscheinende Gehäuse fluoresziert unter UV hell bräunlich, die Zwischenblende erscheint blau und das Glas unterschiedlich grün!

Oberflächen mit unterschiedlichen Fluoreszenzfarben können im Material nicht vollkommen identisch sein. Betrachten wir zum besseren Verständnis der Differenzierungsmöglichkeiten die untenstehende GIF-Animation:


[  ]

Abb. 4: Die hier - hoffentlich - brav ablaufende GIF-Animation aus vier Teilbildern zeigt Lupengehäuse aus unterschiedlichen Materialien im sichtbaren Licht und im 365 nm UV-Licht.

In der Animation ist das Gehäuse unserer extragroßen Lupe bereits korrekt mit "Vulkanit" beschriftet. Eng bzw. etwas ferner verwandt sind die Handelsbezeichnungen "Ebonit", "Kautschuk" und "Hartgummi", wobei in der genauen chemischen Zusammensetzung sowie den jeweils eingesetzten Hilfs- und Farbmitteln, je nach Produktvariante erhebliche Unterschiede bestehen können.

Gemeinsam ist jedoch allen derartigen Materialien das Grundmaterial Kautschuk, sei es nun natürlichen Ursprungs oder synthetisch. Allerdings erfordert die Weiterverarbeitung des flüssigen Rohkautschuks ziemlich heftige Maßnahmen. Nur dann (meist mit Hilfe von reichlich Schwefel, unter Druck und bei hoher Temperatur), vernetzt sich der Kautschuk so weit, dass im Endergebnis Materialien entstehen, die deutlich härter, zäher und langzeitstabiler ausfallen als der Rohstoff.

Mit Bakelit, einem ebenfalls archaischen, synthetischen Kunststoff auf der Basis von Phenol und Formalin, hat das Ganze jedoch rein gar nichts zu tun!

Abschließend noch ein Wort der Warnung, vor allzu selbstherrlicher Fluoreszenzbewertung: Die in Abb. 3 blau fluoreszierende Lochblende besteht allem Anschein nach ebenfalls aus einem Hartgummi - und wir haben nicht die geringste Ahnung, warum sie sich im UV extrem abweichend verhält.

Immerhin darf eine bräunliche Fluoreszenz als ziemlich sicheres Indiz für das Vorliegen eines archaischen Kunststoffs gewertet werden. So erscheint Bakelit im langwelligen UV normalerweise schwach bräunlich, Kautschukvarianten wie der Vulkanit zeigen ein sehr viel intensiveres, helles Braun. Horn gibt sich meist durch einen deutlichen Blauton zu erkennen.



Literatur

Fa. Josef Eschenbach: Katalog Lupen / Lesegläser / Fadenzähler. 32 Seiten, plus separate Preiliste. Nürnberg 1923.

[Anmerkungen: 32 (!) großformatige Seiten mit üppig illustrierten Lupenangeboten, meist mit unterschiedlichen (jeweils wählbaren) Linsengrößen, in vielfältigen Materialien und Varianten: Botanische Lupe, Käferlupe, Briefmarken-Lupe, Einschlag-Lupe, Extrascharfe Einschlag-Lupe, Mikroskop-Lupe, Kautschuk-Leseglas, Mikroskop-Lupe, Celluloid-Lupe, Uhrmacher-Lupe, Stein-Lupe, Schüler-Lupe, Stiel-Lupe, Taschen-Lupe, Taschen-Lupe in amerikanischer Doubléfassung, Fadenzähler, Leseglas, Aluminium-Leseglas, Handlupe, Standlupe, Stand-Leseglas, Briefmarken-Blockglaslupe, Briefmarken-Ringlupe, Dreifußlupe und Universal-Fadenzähler.
Als am häufigsten angebotenes Material wird hier - ohne weitere Erläuterung - "Kautschuk" genannt, was dem heutigen Leser wohl als "Hartgummi" übersetzt werden muss, weil es ansonsten schlichtweg nicht mehr verstanden wird.]


Hauptseite



© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach