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Exkurs: das Coronavirus, die Blu-ray und das Lichtmikroskop (III)

Nochmal - warum der Wirbel um die Blu-ray? Es ist ganz einfach:

Egal was wir mit dem Mikroskop anstellen, wir sollten seine Grenzen kennen und nutzen. CD, DVD und Blu-ray sind ideale, reproduzierbare und weltweit vergleichbare Übungsobjekte. Im Unterschied zu den (auch schönen!) Diatomeen-Testpräparaten sind die industriellen Medien CD, DVD und Blu-ray streng genormt. Sie können deshalb auch als Lineale im Submikrometerbereich dienen.

Last but not least liefert uns jede Blu-ray wunderbares Anschauungsmaterial, um die Grenzen der lichtmikroskopischen Auflösung zu diskutieren. Werfen wir hierzu nochmals einen Blick auf das mikroskopische Bild einer Blu-ray (Abb. 1, Bildmitte, grüner Bereich) :


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Abb. 1: Klassisch-lichtmikroskopische Aufnahmen der Feinstrukturen von CD, DVD und Blu-ray mit einheitlicher Vergrößerung.
Anmerkung: Die Blu-ray Aufnahme ist minimal kosmetisch geschönt (Staubpartikel auf der CCD-Chip-Oberfläche wegretuschiert). [ English keywords: Blu-ray disk, microscope, microscopy, diffraction limit ]

Man liest im Internet immer wieder, dass die lichtmikroskopische Auflösung beugungsbegrenzt und mit 200 µm zu beziffern sei. Schaut man sich jedoch ältere Quellen an, so wird klar, dass Ernst Abbe, wohlgemerkt als mathematisches Genie, die Auflösungsgrenze vorzugsweise mit sprachlichen Mitteln umschrieb, und zwar bei etwa der halben mittleren Wellenlänge des eingesetzten Lichts.
"Da nun auch beim Immersionssystem der Oeffnungswinkel durch kein Mittel erheblich über diejenige Grösse, die 180° in Luft entsprechen würde, hinausgeführt werden kann, so folgt, dass […] die Unterscheidungsgrenze für centrale Beleuchtung doch niemals über den Betrag der ganzen, und für äusserste schiefe Beleuchtung niemals über den der halben Wellenlänge des blauen Lichts um ein Nennenswerthes hinausgehen wird." [Abbe, 1873, S. 456]

Kurt Michel, immerhin zu seiner Zeit Entwicklungschef bei ZEISS, deshalb vermutlich auch kein lupenreiner Prosa-Schreiberling, tendierte ebenfalls zu einer weichen, verbalen Auflösungsdefinition, und zwar:
"Es besteht keine scharfe Grenze für das Auflösungsvermögen. Die Deutlichkeit der Auflösung nimmt vielmehr innerhalb eines gewissen Bereichs, den wir den 'kritischen Bereich der Auflösung' nennen wollen, allmählich ab." [Michel 1950]

Auch Gerhard Göke benennt in seinem nach wie vor unübertroffenen Lichtmikroskopie-Lehrbuch paarweise Auflösungsgrenzen "nach unten" und "nach oben". Dies kann als weiterer Beleg dienen um einzusehen, dass die mikroskopische Auflösungsgrenze nicht mit Hilfe einer einzigen Formel geschweige denn einem einzigen Zahlenwert (das etwas naive "200 nm") zu packen ist [Göke 1988].

Die in den Lehrbüchern am häufigsten vorkommenden Formeln lassen immerhin die auflösungsbegrenzenden Parameter erkennen. Und wir können mit ihnen, wie in der folgenden Abb. 2, näherungsweise Auflösungsgrenzen berechnen:


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Abb. 2: In der obersten Zeile finden sich die beiden gängigsten Formeln zur Ermittlung der lichtmikroskopischen Auflösung d, die auf Ernst Abbes bereits knapp 150 Jahre zurückliegende Veröffentlichungen beruhen.
Die Numerische Apertur A, welche auf Markenobjektiven aufgedruckt ist, definierte Abbe als Produkt aus Brechungsindex n (quasi dem Lichtwegflaschenhals) und Sinus des halben Objektiv-Öffnungswinkels α. In den grau unterlegten Folgezeilen der Abbildung sind beispielhaft auch zwei kürzere (von uns im Falle der Blu-ray nicht verwendete) Lichtwellenlängen eingesetzt. Die rechnerisch resultierenden Auflösungsgrenzen sollen lediglich andeuten, dass die Möglichkeiten des Lichtmikroskopes bei unserem Blu-ray Experiment mit weißem Licht noch nicht ausgeschöpft sind!

Abb. 3 illustriert noch einmal die Größenwelten von CD, DVD und Blu-ray. Ab hier wird es spannend. Niemand wird die Abbe'schen Formeln anzweifeln. Wir könnten nun jedoch argumentieren, dass wir auf Abb. 1 die Blu-ray Pits durchaus noch in ihrer in ihrer näherungsweisen Gestalt, als eine Art Morsemuster bildlich erkennen können. Dies würde dem populären Verständnis des Wörtchens "Auflösung" sicherlich noch gut gerecht werden. Wir "sehen" somit 130 µm breite Blu-ray Pits, die gemeinhin als lichtmikroskopisch nicht mehr auflösbar bezeichnet werden!

Richtig trickreich wird es, wenn wir uns mit Blick auf Abb. 4 überlegen, welche Art von Auflösung wir nun eigentlich mit dem Blu-ray Foto in Abb. 1 nachgewiesen haben könnten. Ist es im Sinne von Abb. 4
-- "nur" der reguläre Gitterabstand zwischen zwei Blu-ray Spuren? (320 nm)
-- oder der um die Spurbreiten bereinigte Netto-Abstand der Spuren? (190 nm)
-- oder die Spurbreite selbst? (Abstand von Untergrund zu Untergrund, 130 nm)


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Abb. 3: Die Computermedien CD, DVD und Blu-Ray im Feinstrukturvergleich.
Bildquelle: Wikimedia Commons (Cmglee - Own work, CC BY-SA 3.0, Link)

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Abb. 4: Schematisches Querschnittsbild der Blu-ray auf Pit-Ebene. Welches der drei Maße ist Ihrer Meinung nach als das tatsächlich maßgebliche Auflösungskriterium d zu werten?

Festhalten möchten wir nun die Einsicht, dass Abbes verbale Definition der lichtmikroskopischen Auflösung sicherlich solide begründet, jedoch sehr streng gehalten ist. Für praktische Belange könnten wir auf Basis von Abb. 1 in Verbindung mit Abb. 4 vermutlich genauso gut 0,1 µm ("etwa 100 nm") als die "bessere" lichtmikroskopische Grenze postulieren (wohlgemerkt bei schräger Beleuchtung, Apertur 1.4 und verdammt blauem Licht).



Literatur

Wer es genauer wissen will, kommt an der älteren, stärker mathematisierten Fachliteratur leider nicht vorbei. Es gibt natürlich noch härtere Kost als die im Folgenden zitierte Literatur, wir wollen aber nicht übertreiben!

Ernst Abbe: Beiträge zur Theorie des Mikroskops und der mikroskopischen Wahrnehmung. In: Archiv für mikroskopische Anatomie. Band 9, Nr. 1, Dezember 1873, S. 413–468. (zitiert nach dem Wikipedia Eintrag "Auflösung (Mikroskopie)")

Kurt Michel: Die Grundlagen der Theorie des Mikroskops. Stuttgart 1950. S. 211.
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Abb. 5: Beugungsbild eines vertikal ausgerichteten, noch gut aufgelösten 500er Liniengitters, Experiment #1 nach Michel (eines von 50).
Anmerkung: Das beim Blick in den Tubus ohne Okular erkennbare Beugungsbild enthält sämtliche Objektinformationen, allerdings in verklausulierter Form. Es wird weiter oben im Strahlengang zum "richtigen" Bild umgewandelt. Die Betrachtung derartiger Beugungsbilder ist zum Verständnis der Bildentstehung und zur gezielten Auflösungsoptimierung enorm hilfreich. Deshalb verfügt beispielsweise der HT-11 Trinotubus von LOMO über eine Einstellung, mit der speziell das mikroskopische Beugungsbild betrachtet werden kann.

Gerhard Göke: Moderne Methoden der Lichtmikroskopie. Stuttgart 1988. Seite 53.



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© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach