[Titelfragment 1.1] [Titelfragment 1.2] Titelfragment 1.3]
[Titelfragment 2.1] [Titelfragment 2.2] [Titelfragment 2.3]
[Titelfragment 3.1] [Titelfragment 3.2] [Titelfragment 3.3]


Lupen für Fortgeschrittene (XXI)
Verschwommene Historie - über die Anfänge des Lupen-Vergrößerns
Hier: der Disput

"Verwendeten antike Medailleure/Kunsthandwerker/Inspekteure Lupen?"

Interessant ist, mit welch unterschiedlicher Selbstsicherheit einzelne Autoren diese Frage zum ersten Auftauchen der Lupen beantworten. Letztendlich ist die eigenständige und mühsame Lektüre der unten aufgeführten, einschlägigen Publikationen durch nichts zu ersetzen. Trotzdem möchten wir einige wenige, unterhaltsame Pralinés aus dem bunten Strauß konträrer Argumentationen herauspicken:

Als mit Abstand schillerndster Vertreter der "Antike Lupen? Ja!"-Fraktion darf der U.S.-amerikanische Orientalist und Bestseller-Autor Robert Temple gelten [Temple 1999]. International eindrucksvoll vernetzt und trittsicher im Umgang mit frühgeschichtlichen Quellen wirkt er in gleicher Intensität auch als enfant terrible und rotes Tuch für viele Altertumswissenschaftler.

Als Beleg für seine gelegentlich spitze Zunge sei hier lediglich ein einziges, bezeichnendes Zitat aus seinem Werk "The Crystal Sun" eingeflochten:
"My own measurements are more precise, but merely the same ..."

Andere Autoren, wie beispielsweise Kaspar Paasch [Paasch 1999] neigen hingegen eher dazu, abschließende Festlegungen zu vermeiden. Sie halten sich - auch in der Frage des frühgeschichtlichen Lupeneinsatzes - mit der, fast schon berüchtigten Wissenschaftler-Formulierung "further research needed", alle Türchen offen.

Robert Temple diskutiert nun die sogenannte Nimrud-Linse (Abb. 1) in seinem umfangreichen Werk "The Crystal Sun" besonders eingehend. Er verweist dort nicht zuletzt auf prominente Verfechter der Lupeneigenschaft, insbesondere die bejahende Meinung des berühmten Optikwissenschaftlers Sir David Brewster.


[  ]

Abb. 1: Die sogenannte Nimrud-Linse (auch Layard-Linse) im British Museum. Sie stammt aus dem antiken Nimrud (heute im Irak gelegen), wurde im Jahr 1850 von Austen Henry Layard ausgegraben, besteht aus Quarz und wird ins 8. Jahrhundert v. Chr. datiert.
Bildquelle user:geni License: CC-BY-SA.

Nicht zu leugnen ist allerdings unserer Meinung nach, dass Temples Abbildung zur Demonstration der Lupenwirkung der Nimrud-Linse (in seinem Buch auf Tafel 37) ausgesprochen neblig, ja geradezu wellig objektverfremdend wirkt und deshalb unweigerlich an Richard Greefs, bereits früher von uns zitiertes, besonders vernichtendes Urteil erinnert:

"Wer aber den optischen Fachleuten immer noch nicht glauben will und es besser weiß, der versuche doch mal, durch eine solche Linse aus Bergkristall feine Arbeiten auszuführen. Es wird ihm auch nicht für einen einzigen Augenblick möglich sein."

Eine Schwierigkeit bei der Rechtfertigung der Lupeneigenschaft der Nimrud-Linse besteht in ihrem, letztendlich dem ovalen Umriss geschuldeten, in der x-y-Ebene lokal unterschiedlichen Krümmungsgrad. Dieser bewirkt - je nach Messrichtung - erhebliche lokale Unterschiede in der Lichtbrechung und somit auch Fokusprobleme.

In der Fachsprache des Brillenoptikers nennt Temple für die Nimrud-Linse Kennwerte im Bereich "+4D sph / +4D cyl". In Worten ausgedrückt bedeutet dies, dass die Linse ortsabhängig unterschiedliche Brechwerte zwischen 4 und 8 Dioptrien zeigt. Diese beruhen einerseits auf einer schwachen Krümmung in der Längsachse, mit einer Brechwirkung von 4 Dioptrien ("sph" = gleichmäßig sphärisch), andererseits auf einer sich überlagernden zusätzlichen, zylinderähnlichen ("cyl") Abweichung von der Kugelgeometrie, die in der Querachse bis zu vier zusätzlichen Dioptrien beiträgt. Somit entspräche die Linse einem menschlichen Auge mit Astigmatismus-Sehfehler (Stabsichtigkeit, Hornhautverkrümmung), könnte umgekehrt aber theoretisch auch als Brille fungieren, um einen gegenläufigen, astigmatischen Sehfehler ausgleichen zu helfen.
Es ist nun kein Wunder, dass mit einer derart heterogen fokussierenden Linse keine vernünftige Lupenvergrößerung zustande kommen kann: Die Linse ist deshalb als normale Lupe nicht sonderlich gut geeignet, auch nicht als Brennglas.

Robert Temple schießt deshalb in seiner Argumentation notgedrungen über sein vorheriges Ziel (Bestätigung einer einfachen Lupenfunktion) hinaus: Sinngemäß argumentiert er, dass der asphärische Charakter der Linse Absicht gewesen sein könnte - kein fehlerhaftes Produkt, sondern vielmehr vermutlich Spezialanfertigung sei, Sehhilfe für eine ganz bestimmte Person mit heftigem Astigmatimus-Problem!
Angesichts dieser intellektuellen Pirouette verwundert den Leser dann auch nicht mehr zu erfahren, dass der ursprüngliche Nutzer der Linse edlen Geblütes gewesen sein müsse ...

Und Robert Temple hält an diesem Punkt keineswegs an, argumentiert noch weiter: Die muscheligen Randausbrüche an der Nimrud-Linse seien aller Wahrscheinlichkeit nach Hinweis auf eine ursprünglich vorhandene Fassung aus Gold, die Metalldiebe mit brachialer Gewalt entfernt hätten!

Zusammenfassend erweckt er in "Crystal Sun" den Eindruck, dass so ziemlich alle weltweit in Museen deponierten, antiken Glaslinsen (viele Hundert Stück!) optische Instrumente gewesen seien.
Es ist nun nicht verwunderlich, dass in Fachkreisen auch die exakte Gegenmeinung existiert, der zufolge so ziemlich keine dieser Glaslinsen als optisches Instrument anzusehen sei!

Letzten Endes, liebe Leserinnen und Leser, ist es nun an Ihnen, die unten genannte Literatur selbst zu studieren und zu überlegen, ob die Erfindung der Brille auf Basis von Robert Temples Überlegungen um ca. 2000 Jahre vorverlegt werden muss oder aber Robert Temple vor lauter Begeisterung übers Ziel hinaus geschossen sein könnte?

Im nächsten Journal werden wir eine Harmonisierung der vermeintlich unerbittlich unvereinbaren Gegensätze versuchen - bis bald!



Literatur

Gorelick, Leonard; Gwinneth, A. John: Close Work without magnifying lenses?
Expedition, Philadelphia 23(1981) p. 15.

Lewis, Bart: Did ancient celators us magnifying lenses?. The Celator 11 (1977) 40-41.
[Online-Version: https://social.vcoins.com/files/file/126-vol-11-no-11-november-1997/
The celator, 11 (1997).]

Paasch, Kasper: The history of optics: From ancient times to the middle ages.
DOPS NYT 14(1999) p. 5-8.

Sines, George; Sakellarakis, Yannis A.: Lenses in Antiquity.
American Journal of Archaeology 91 191-196.

Temple, Robert: The Crystal Sun. 1999. Paperback-Kurzversion, mit stattlichen 642 Seiten.
[Anmerkung: Selbst wenn man dem Autor nicht in allen Argumentationen folgen möchte, bleibt immerhin festzuhalten, dass Robert Temple kompetent und quellensicher auftritt sowie fesselnd formuliert, so dass sich die Lektüre seines kleingedruckten Wälzers auf alle Fälle lohnt.
Die Diskussion der Lupenhistorie findet sich übrigens in den beiden ersten Kapiteln seines Buchs, mit den Titeln "Coming to Light" und "Really in a Nutshell"].



Hauptseite



© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach