Nicht zu leugnen ist allerdings unserer Meinung nach,
dass Temples Abbildung zur Demonstration der Lupenwirkung der Nimrud-Linse
(in seinem Buch auf Tafel 37) ausgesprochen neblig, ja geradezu
wellig objektverfremdend wirkt und deshalb unweigerlich an Richard Greefs, bereits
früher von uns zitiertes, besonders vernichtendes Urteil erinnert:
"Wer aber den optischen Fachleuten immer noch nicht glauben will
und es besser weiß, der versuche doch mal, durch eine solche Linse aus
Bergkristall feine Arbeiten auszuführen. Es wird ihm auch nicht für einen
einzigen Augenblick möglich sein."
Eine Schwierigkeit bei der Rechtfertigung der Lupeneigenschaft der Nimrud-Linse
besteht in ihrem, letztendlich dem ovalen Umriss geschuldeten, in der x-y-Ebene
lokal unterschiedlichen Krümmungsgrad. Dieser bewirkt - je nach Messrichtung - erhebliche
lokale Unterschiede in der Lichtbrechung und somit auch Fokusprobleme.
In der Fachsprache des Brillenoptikers nennt Temple für die Nimrud-Linse
Kennwerte im Bereich "+4D sph / +4D cyl".
In Worten ausgedrückt bedeutet dies, dass die Linse ortsabhängig unterschiedliche
Brechwerte zwischen 4 und 8 Dioptrien zeigt. Diese beruhen einerseits
auf einer schwachen Krümmung in der Längsachse, mit einer Brechwirkung
von 4 Dioptrien ("sph" = gleichmäßig sphärisch),
andererseits auf einer sich überlagernden zusätzlichen, zylinderähnlichen ("cyl")
Abweichung von der Kugelgeometrie, die in der Querachse bis zu vier zusätzlichen Dioptrien beiträgt.
Somit entspräche die Linse einem menschlichen Auge mit Astigmatismus-Sehfehler (Stabsichtigkeit,
Hornhautverkrümmung), könnte umgekehrt aber theoretisch auch als Brille fungieren,
um einen gegenläufigen, astigmatischen Sehfehler ausgleichen zu helfen.
Es ist nun kein Wunder, dass mit einer derart heterogen fokussierenden Linse
keine vernünftige Lupenvergrößerung zustande kommen kann: Die Linse
ist deshalb als normale Lupe nicht sonderlich gut geeignet, auch nicht als Brennglas.
Robert Temple schießt deshalb in seiner Argumentation notgedrungen über
sein vorheriges Ziel (Bestätigung einer einfachen Lupenfunktion) hinaus:
Sinngemäß argumentiert er, dass der asphärische Charakter der Linse
Absicht gewesen sein könnte - kein fehlerhaftes Produkt, sondern vielmehr
vermutlich Spezialanfertigung sei, Sehhilfe für eine ganz bestimmte Person
mit heftigem Astigmatimus-Problem!
Angesichts dieser intellektuellen Pirouette verwundert den Leser dann auch
nicht mehr zu erfahren, dass der ursprüngliche Nutzer der Linse
edlen Geblütes gewesen sein müsse ...
Und Robert Temple hält an diesem Punkt keineswegs an, argumentiert noch weiter:
Die muscheligen Randausbrüche an der Nimrud-Linse seien aller Wahrscheinlichkeit
nach Hinweis auf eine ursprünglich vorhandene Fassung aus Gold, die Metalldiebe
mit brachialer Gewalt entfernt hätten!
Zusammenfassend erweckt er in "Crystal Sun" den Eindruck,
dass so ziemlich alle weltweit in Museen deponierten, antiken Glaslinsen (viele Hundert Stück!)
optische Instrumente gewesen seien.
Es ist nun nicht verwunderlich, dass in Fachkreisen auch die exakte Gegenmeinung existiert,
der zufolge so ziemlich keine dieser Glaslinsen als optisches Instrument anzusehen sei!
Letzten Endes, liebe Leserinnen und Leser, ist es nun an Ihnen, die unten genannte
Literatur selbst zu studieren und zu überlegen, ob die Erfindung der Brille auf Basis
von Robert Temples Überlegungen um ca. 2000 Jahre vorverlegt werden muss
oder aber Robert Temple vor lauter Begeisterung übers Ziel hinaus geschossen sein könnte?
Im nächsten Journal werden wir eine Harmonisierung der vermeintlich unerbittlich
unvereinbaren Gegensätze versuchen - bis bald!
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