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Bärtierchen-Artbestimmung (Teil I) - Gastbeitrag von Dr. Rolf Schuster*

Bärtierchen weisen nur relativ wenige anatomische Merkmale auf, die sich für die Einordnung nach Familie, Gattung und Art eignen. Im hier vorliegenden Teil I der Taxonomie-Einführung betrachten wir zunächst den besonders charakteristischen Vorverdauungsbereich und die Ausformung der Krallen.
Teil II der Taxonomie-Einführung mit weiteren, ebenfalls bestimmungswichtigen Merkmalen folgt im August. Für die Zeit ab September 2024 sind nach und nach exemplarische Darstellungen einzelner Arten geplant - vorrangig Arten, die auch für Mikroskopie-Amateure gut erkennbar sind und die man vergleichsweise häufig in Mitteleuropa findet. Und, völlig klar, mit Fotos!

1) Taxonomisch wichtige Merkmale im vorderen Verdauungsbereich
Die Stilette der Bärtierchen (Abb. 1) bestehen aus einem besonders widerstandsfähigen, mineralverstärkten Verbundmaterial. In ihrer Wirkung sind sie deshalb durchaus mit spitzen Dolchen vergleichbar. Die Stilette können durch die Mundöffnung hindurch nach außen gestoßen werden und dienen typischerweise zum Anstechen von Pflanzenzellen.
Der überwiegend flüssige Inhalt dieser Pflanzenzellen wird vom Bärtierchen eingesaugt, gelangt durch die Schlundröhre in den rundlichen Schlundkopf, der auch als Kaumagen bezeichnet wird. Von dort wandert die Nahrung weiter Richtung Magen, wird chemisch verdaut und zuletzt bauchseitig vor den Beinen des hintersten Beinpaars wieder ausgeschieden.
Im Bereich des Schlundkopfs ist die Schlundröhre kontrahierbar (siehe Abb. 2). Auf diese Weise kann der Schlundkopf einen Saugeffekt bewirken, ähnlich wie der Ball einer Pipette. Sozusagen in Zweitfunktion enthält der Schlundkopf sogenannte Makro- und Mikroplakoide. Diese bestehen aus hartem Material, können, wie auf Abb. 2 nachvollziehbar, konzentrisch gegeneinander drücken und somit etwaige Feststoffreste im Nahrungsbrei - ähnlich wie ein Nussknacker - zerbröseln.


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Abb. 1: Nahrungsaufnahme- und Vorverdauungsbereich der Bärtierchen (Aufsicht). Links ein Vertreter des Genus Macrobiotus, rechts ein Vertreter des Genus Diphascon, jeweils ausgestattet mit Mundöffnung (ganz oben), Schlundröhre (auch "Speiseröhre") und dem sogenannten Schlundkopf. Der rundliche Schlundkopf wird im Hinblick auf seine Wirkungsweise gelegentlich - und vielleicht sogar noch etwas anschaulicher - auch als "Kaumagen" bezeichnet.
Zeichnung nach [Kinchin 1994].


Liste der Bestimmungsmerkmale im vorderen Verdauungsbereich:

• Form und Anzahl der Makroplakoide
Hierbei wird die Anzahl der Makroplakoide von vorne nach hinten auf einer Seite gezählt. In Abb. 1 hätten wir somit links zwei rundliche, bohnenförmige Makroplakoide, rechts drei, eher längliche Makroplakoide.

• Vorhandensein oder Fehlen des Mikroplakoids?
Lediglich der rechte Schlundkopf auf Abb. 1 weist ein Mikroplakoid auf.

• Runde oder längliche Schlundkopfform?
Abb. 1 zeigt links eine besonders häufige, rundlich bis schwach ovale Gestalt des Schlundkopfs, und rechts eine seltenere, längliche Schlundkopf-Variante.

• Gestalt der Schlundröhre und "Drop"
Die Schlundröhre kann starr und gerade, oder aber partiell gewunden und teils flexibel ausgebildet sein. Bei den Arten mit verlängerter, flexibler Schlundröhre gibt es eine bestimmungswichtige Besonderheit zu beachten: Am Übergang vom starren zum flexiblen Teil kann sich eine Ausbeulung ("Drop"-Formation) befinden oder auch nicht (siehe Abb. 1, rechts).



Ein Querschnitt durch den Schlundkopf (Abb. 2) verdeutlicht die dreistrahlige Anordnung und Wirkungsweise der Makroplakoide beim Zerkleinern der Nahrung in der Schlundröhre:


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Abb. 2: Bärtierchen-Kaumagen, in Querschnittsdarstellung, auf Höhe der Makroplakoide. Gleichzeitig "Nussknacker" und Saugball! Zeichnung nach [Kinchin 1994].

Wenn die Bärtierchen zu stark gepresst unter einem Deckglas liegen, kann es vorkommen, dass man nicht lediglich zwei, sondern gleichzeitig drei Makroplakoidreihen sieht (weil sich dann alle drei auf etwa gleicher Schärfe-Ebene befinden).




2) Taxonomisch wichtige Merkmale bei den Krallen
Innerhalb des Stammes der Bärtierchen gibt es 3 Klassen, und zwar Heterotardigrada, Apotardigrada und Eutardigrada. Diese 3 Klassen lassen sich anhand der Krallenform unterscheiden:

a) Heterotardigrada - Krallenmerkmale
Zu dieser Klasse gehören neben einigen anderen Gruppen die Echiniscus-Arten, die leicht an dem meist rötlichen Körper erkennbar sind. An jedem Bein haben sie vier etwa gleiche Krallen (siehe Abb. 3), die nahe der Basis Spitzen haben können.


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Abb. 3: Bein eines Heterotardigraden mit vier Krallen.
Zeichnung nach [Kinchin 1994].


Heterotardigrada - Liste der Krallenmerkmale:
• Vorhandensein/Fehlen der Papille
• Anzahl und Form der Zähnchen am Kragen (nur am 4. Beinpaar zu finden)
• Länge der Krallen
• Vorhandensein/Fehlen der Spitzen an den Krallenbasen
• Form und Ausrichtung der Spitzen: nach unten oder nach oben gebogen



b) Apotardigrada - Krallenmerkmale
Die Apotardigrada sind nur mit einer einzigen Gruppe (einem einzigen Genus) namens Milnesium vertreten. Die Krallen dieser Gruppe sollen erst in einer späteren Ausgabe des Journals, bei der Art Milnesium tardigradum vorgestellt werden.



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Abb. 4: Typisches Doppelkrallenpaar am Bein eines Eutardigraden. Zeichnung nach [Kinchin 1994].

c) Eutardigrada - Krallenmerkmale (siehe Abb. 4)
Zu den Eutardigrada zählt der überwiegende Teil der bei uns vorkommenden Bärtierchen. An jedem der acht Beine haben die Tierchen zwei Doppelkrallen, und zwar eine innere und eine äußere Doppelkralle. Jede der beiden Krallen lässt sich als Verbund aus einem größeren Hauptast und einen kleineren Nebenast interpretieren. An den Enden des Hauptastes befinden sich häufig zusätzliche Spitzen. An der Basis kann eine kutikulare Versteifung auftreten, die sogenannte Lunula. Sowohl zwischen äußerer und innerer Kralle, als auch neben der inneren Kralle können sich kutikulare Leisten befinden (auf Abb. 4 ist nur eine kutikulare Leiste links neben der inneren Kralle zu sehen).


Eutardigrada - Liste der Krallenmerkmale:
• Form und Größe der Krallen
• Vorhandensein/Fehlen der zusätzlichen Spitzen
• Vorhandensein/Fehlen und die Form der Lunula
• Vorhandensein/Fehlen und die Form der kutikularen Leisten



Weitere Bestimmungsmerkmale auf der Basis anderer Anatomiebereiche folgen im zweiten Teil dieser Taxonomie-Einführung (August-Journal). Bis bald!



Anmerkungen und Literatur

(*) Der Bärtierchenspezialist, Partner und Co-Autor dieser Taxonomie-Serie, Dr. Rolf Schuster, berät Sie gerne bei tiefer schürfenden taxonomischen Fragestellungen und bei der Bestimmung der von Ihnen gefundenen Bärtierchen. Schreiben Sie einfach eine Mail an Rolf Schuster !

Hieronim Dastych, The Tardigrada of Poland. Monografie Fauny Polski 16, 1-255. 1988.

Ian M. Kinchin, The Biology of Tardigrades. London 1994.



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© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach