Als Amateure dürfen wir ruhig mal ein wenig wackelig argumentieren
und folgende Arbeitshypothese aufstellen:
"Die diskutierten Bereiche sind deshalb glatt und durchsichtig, weil die Augen
der Wasserbären direkt darunter liegen und eine durchgehend granulierte
Cuticula, ähnlich wie eine Milchglasscheibe, den Ausblick und Bildeindruck
in einem optischen System verderben würde."
Um diese Hypothese auch nur ein wenig aufrecht erhalten zu können,
müßten wir zumindest zeigen, daß die Bärtierchen wirklich
Augen haben und noch dazu mit diesen Augen ein Bildersehen möglich ist.
Besonders bei einem vergleichsweise hochentwickelten Auge würde ein transparentes
Fenster in der Cuticula sinnvoll erscheinen.
Werfen wir zuerst einen Blick in die Fachliteratur und schauen wir, was die Profis
über das Thema "Bärtierchen-Auge" zu Papier gebracht haben.
Hier eine kleine Auswahl einschlägiger Zitate aus umfangreicheren
Publikationen, welche sich allesamt eingehend mit Tardigraden befassen:
"Den Außenlappen [des Oberschlundganglions] liegen invertierte
Pigmentbecherocellen mit je einer Sehzelle dicht an ..." (E. Marcus:
Tardigrada. S. 7. Berlin 1936.)
"Als Sinnesorgane dienen die Cirren sowie Pigmentbecherozellen, die dem
Oberschlundganglion anliegen und nur eine einzige Sehzelle enthalten"
(A. Kaestner: Lehrbuch der Speziellen Zoologie. Band I: Wirbellose, 1. Teil. S. 589.
3. Auflage. Stuttgart 1969.)
"There is a distinct anterior region which may or may not bear
eyespots and cephalic appendages "
(C.I. Morgan, P.E. King: British Tardigrades. S. 2. London 1976.)
"Eutardigraden und die Echiniscoidea haben mehr oder weniger rostral
den äußeren Lappen des Oberschlundganglions anliegende Augen (Ocellen),
die nur aus einer Sinneszelle bestehen sollen und von einem schräg nach
außen und vorn geöffneten Pigmentbecher umgeben sind. Das Pigment ist
schwarz, bei den Echiniscidae auch rot, 'blinden' Exemplaren fehlt der Farbstoff.
... Zur Ultrastruktur dieser Organe liegen bisher keine Untersuchungen vor."
( H. Greven: Die Bärtierchen. S. 25. Wittenberg Lutherstadt 1980.)
"In molte specie, sia di Etero- che die Eutardigradi, esistono occhi
posti sui lobi esterni del cerebro, e costituiti da una sola cellula
fotosensibile. Spesso (ma non sempre) la cellula fotosensibile è
circondata da macchie pigmentate costituite da granuli più o meno
sparsi, neri negli Eutardigradi, generalmente rossi, ma talora marrone
o neri, negli Eterotardigradi Echiniscidi" (W. Maucci: Tardigrada.
S. 14. Bologna 1986.)
"A pair of cup-shaped pigmented eyespots associated with the lateral lobes
of the cerebral ganglion is also present in many species" (I.M. Kinchin:
The Biology of Tardigrades. S. 52. London 1994.)
Kurz zusammengefaßt stimmen die Autoren offenkundig darin überein,
daß das Bärtierchen-Auge zwar zweifelsfrei existiert, jedoch vergleichsweise
primitiv ausgebildet ist und nur aus einer einzigen Sehzelle, manchmal in Verbindung
mit ein wenig Pigment besteht. Hartmut Greven geht etwas weiter und
läßt uns immerhin einen winzigen Hoffnungsschimmer, indem er einen nach
außen hin geöffneten Pigmentbecher erwähnt, welcher ja vielleicht
ein Richtungssehen, d.h. die zumindest grobe Lokalisation einer Punktlichtquelle
ermöglichen würde. Auch stellt Greven einen Mangel an genaueren
Untersuchungen fest.
Nachdem wir die faszinierenden Eigenschaften der Bärtierchen und ihre
enorme Miniaturisierung, z.B. auch bei der Muskulatur , hier im
Bärtierchen-Journal immer wieder ausgiebig bejubelt haben, sind wir nun
doch ein wenig enttäuscht.
Unser hochentwickeltes Bärtierchen, welches
sich durch die Lianen des finsteren Moosdschungels kämpfen muß,
mit Bakterien in der subjektiven Größe eines Wiener Würstchens
fertig wird und am Boden 100 m tiefer Gletscherschlote gefunden wurde,
soll ein derart mickriges Sehorgan haben, wie wir es bei einem Staubwurm
vermuten würden?
Je nach Temperament kann man nun einen Aufschrei der Empörung loslassen
oder aber nochmal zurück in die Bibliothek und an's Mikroskop gehen -
wir haben uns für die leisen Alternativen entschieden.
Schon recht früh haben sich die Profis Gedanken gemacht, was "niedere"
Tiere sehen können. Ein schönes Beispiel ist die Monographie
des Richard Hesse (siehe unten bei Literatur) über das Sehen der niederen Tiere von 1908.
Bei William Carpenter (1891) finden wir sogar eine Abbildung, welche durch (!)
das Facettenauge einer Fliege hindurch fotografiert wurde, um die optische
Auflösung dieses Auges im Vergleich zu der des Menschen zu demonstrieren.
Schon Hesse zeigt verschiedene Entwicklungsstufen des Auges, ausgehend vom
simplem Lichtdetektor, der nur Hell und Dunkel unterscheiden kann, über
diverse Zwischenstufen hinweg, bis hin zum bildsehenden Linsenauge.
Hesse hat auch ein schönes Argument, welches uns hilft, mit der
Tatsache klar zu kommen, daß manche Tardigraden Augenpigment haben und
andere nicht. Er weist einfach darauf hin, daß bei den Menschen auch die
pigmentschwachen Albinos aller Wahrscheinlichkeit nach genauso sehen können
wie ihre normal pigmentierten Artgenossen.
Ach ja, und dann ist die Redaktion in einem arg verstaubten Journal schließlich
auf das folgende, bemerkenswerte Zitat über Bärtierchen-Augen gestoßen:
"Ich ... will nur hinzufügen, daß das Auge ... im Gegensatz zu dem,
was XXX von anderen Formen mitgeteilt hat, durchaus kein einfacher Pigmentfleck ist.
Das Auge ist hier ziemlich kompliziert gebaut ...
Ferner besitzt das Auge eine einheitlich gewölbte, sehr deutliche Linse."
Wer kennt den Namen des Forschers und weiß, wo und wann diese kecke Behauptung
publiziert wurde? Als kleine Hilfe sei hinzugefügt, daß die besagte
Publikation wesentlich älter ist als alle oben zitierten.
Wissen Sie es? Und glauben Sie an die Existenz einer derartigen,
natürlich ultrakleinen Linse?
Die Redaktion freut sich schon auf Ihre Zuschriften.
Im nächsten Journal werden wir das Thema "Bärtierchen-Auge"
entsprechend vertiefen. Bis dahin, alles Gute.
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