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Lupen für Fortgeschrittene (XX)
Verschwommene Historie - über die Anfänge des Lupen-Vergrößerns
Hier: Schärfer sehen ohne Glas?

Wie bereits in den letzten Journalen erwähnt und bildlich-exemplarisch verdeutlicht, könnten die Kunsthandwerker der Renaissance und des Altertums sehr wohl ohne vergrößernde Sehhilfen ausgekommen sein.
Unbestritten ist allerdings eine lawinenartige Verbreitung von Lesehilfen - immerhin bereits für die Zeit nach 1300.

Klare Belege für professionelle Optiknutzungen durch (Münz-)Graveure, Hersteller von Prachtgewändern etc. sind jedoch ultraselten. Lediglich für den, fast schon trivialen Fall des 19. Jahrhunderts gelang es uns, einen eindeutigen kunsthandwerklichen Lupeneinsatz bildlich nachzuweisen:


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Abb. 1: Bilddetail aus dem Buch der Erfindungen (1876 - Band 1, S. 491) mit der Erläuterung "Ein Kupferstecher-Atelier".
Die Nutzungsweise der hier dargestellten Lupe entspricht dem, was man bei einer technischen Lupe erwarten sollte: nahe am Auge und nahe am Objekt. Bei dem gezeigten Instrument könnte es sich übrigens um eine der zu dieser Zeit gängigen, zweilinsigen Lupen aus Horn handeln.

Die Frage nach der Notwendigkeit und Nützlichkeit linsenoptischer Hilfsmittel im Handwerk können wir jedoch alternativ auch experimentell, im Selbstversuch angehen.

Als Demo-Objekt gut geeignet erscheint uns hierfür die deutsche 1-Cent-Münze, deren Jahreszahl mit knapp 0,65 mm Höhe bei der Betrachtung mit bloßem Auge ausgesprochen winzig erscheint. Greifen Sie jetzt aber unbedingt sofort in den eigenen Geldbeutel und überzeugen Sie sich selbst!

Die betreffende Jahreszahl lässt sich auf einem Makrofoto (Abb. 2) in stark vergrößerter Bildschirmdarstellung selbstverständlich problemlos entziffern:


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Abb. 2: Die Rückseite einer deutschen 1-Cent-Münze in der Makroaufnahme. Man bedenke jedoch, dass diese Münze in der Realität - mit nur 16 mm Durchmesser! - eben doch ziemlich klein ist und die Inschrift dann dementsprechend winzig erscheint.

Einem durchschnittlichen, nicht mehr allzu jugendlichen Betrachter wird diese Münze ohne optische Hilfsmittel deshalb nur noch etwa etwa so klar wie auf Abb. 3 erscheinen:


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Abb. 3: Simulation des Aussehens der Rückseite einer 1-Cent-Münze, wie sie von einem nicht mehr allzu jugendlichen Betrachter empfunden wird. Die Jahreszahl wird demnach, je nach individuellem physischen Verfallszustand, gerade noch oder auch gerade nicht mehr erkennbar sein.

Außer Frage steht jedoch, dass für den Graveur feiner Inschriften, beispielsweise auf Münzprägestempeln, eine deutlich höhere Auflösung wünschenswert, wenn nicht sogar unabdingbar wäre - etwa so:


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Abb. 4: Simulation einer für Graveure besser geeigneten, höheren optischen Auflösung.

An diesem Punkt wird es jedoch tatsächlich spannend, weil angesichts ähnlich winziger antiker Schrift- und Bilddetails regelmäßig diskutiert wird, ob ein typischer antiker "Meister" (logischerweise biologisch auch nicht mehr so ganz taufrisch) das denn noch hinbekommen haben könnte?


Um nun die Möglichkeit einer Steigerung von Abb. 3 nach Abb. 4 im Selbstversuch zu verifizieren, eignet sich auch eines der im Internet gängigsten Objektmikrometer, auf dem sich kleine Punkte der hier interessierenden Größenordnung befinden:


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Abb. 5: Gängiges Objektmikrometer ("calibration slide") für Messungen im mikroskopischen Umfeld. Originalgröße: 76 mm x 26 mm (3 Zoll x 1 Zoll). Die beiden rechts aufgedruckten Fadenkreuze enthalten im Zentrum einen 0,15 mm bzw. einen 0,07 mm messenden Punkt.

Im Selbstversuch konnten wir mit unbewaffnetem Auge lediglich den 0,15 mm Punkt auf dem Objektmikrometer problemlos erkennen, den kleineren Nachbarn jedoch nicht mehr.


 

Hier wird nun ein kleiner Exkurs fällig: Im Winter 1981 erschien in der Zeitschrift "Expedition" ein Artikel mit dem Titel "Close Work Without Magnifying Lenses?", der zu einer interessanten, ebenfalls publizierten Folgediskussion führte. Ein Leser hatte nämlich angemerkt, dass auch die Verwendung einer Lochblende ("pin hole") den erwünschten Erfolg in der Nahsicht erbringen könnte [Diskussion zu Gorelick 1981, siehe Link unten].
Interessanterweise wurde der Leserhinweis von den Autoren des Artikels etwas lieblos beiseite gewischt: Ein Ophthalmologe hätte auf Anfrage hin versichert, dass die Verwendung von Lochblenden in der augenmedizinischen Praxis Routine sei und dass die Lochblenden keinen nennenswerten Vergrößerungsvorteil böten. Die Artikel-Autoren merkten außerdem noch an, dass man man unter einer Lochblende überhaupt nicht arbeiten könne, statt dessen ständig zwischen Werkzeugsicht und Objektsicht wechseln müsse. Weiterhin sei beim Einsatz der Lochblende ein Stativ vonnöten.


An dieser Stelle ist jedoch Widerspruch angesagt. Zugegeben, gängige Lochblenden, wie sie in typischen Lochbrillen zu finden sind, verschaffen dem Betrachter im Nahbereich tatsächlich nur eine marginal bessere Detailauflösung.


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Abb. 6: Eine handelsübliche Lochbrille - sozusagen ein Vielfach-Pinhole. Man könnte hier alle Löcher bis auf ein einziges, ergonomisch gut geeignetes (mittiges) abdecken und somit die Brille grundsätzlich auch als Einzel-Pinhole verwenden. Leider ist sie jedoch für das hier vorgeschlagene Experiment zur maximalen Verbesserung der Nahsicht trotzdem nicht optimal geeignet: Der relativ große Lochdurchmesser von 1,5 mm vermag nämlich die wirksame Pupillengröße nicht ausreichend zu verkleinern. Genau wie in der Fotografie wird die erwünschte Ausweitung der Tiefenschärfe in den Nahbereich nur bei extremer Abblendung erreicht.

Jedoch konnten wir uns im Selbstversuch überzeugen, dass eine extrem kleine Lochblende (siehe Abb. 7) sehr wohl zu einer gewaltigen Nahsicht-Detailverbesserung verhilft. Letzten Endes beruht der Effekt auf der von der Fotografie bekannten starken Abblendung. Dank dieser extremen Abblendung vergrößert sich der Schärfentiefenbereich erheblich. Nur dann fällt der Betrachtungs-Mindestabstand dementsprechend gering aus: Mit der in Abb. 7 gezeigten Lochblende ließen sich die Jahreszahl-Ziffern auf dem 1 Cent Stück noch bei einem Abstand von nur 8 cm (!) absolut klar erkennen. Auch der 0,07 mm Punkt auf dem Objektmikrometer wurde plötzlich sichtbar. Und selbstverständlich kann eine ergonomisch passend geformte Lochblendenfassung genau wie eine Uhrmacherlupe direkt ins Auge geklemmt werden, wodurch beide Hände frei bleiben und natürlich auch das von [Gorelick 1981] vorgebrachte Stativargument entfällt.
Letztendlich handelt es sich, genau wie bei Lupe aus Glas, um eine Vergrößerung durch verringerten Betrachtungsabstand.

All dies ist nun natürlich keineswegs Beweis, dass die Graveure der Antike allesamt mit winzigen Lochblenden gearbeitet hätten, jedoch ein klares Argument, dass sich das individuelle visuelle Auflösungsvermögen auch ohne klassische Glaslupen massiv verbessern lässt.


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Abb. 7: Winzige, in Holz montierte Lochblende zur Verbesserung des Nahsehens. Das Blendenloch misst 0,5 mm im Durchmesser. Besonders ergonomisch ist die kleine Einblicköffnung allerdings nicht: Man muss sie ziemlich genau anpeilen, kann aber dann die komplette Oberfläche der 1-Cent-Münze überblicken!

Probieren Sie es doch einfach aus - zur Not reicht bereits ein sauberer Nadelstich durch schwarzes Papier! Wer sich handwerklich nicht besonders fit fühlt, kann sich aber im Internet alternativ eine 0,5 mm Lochblende besorgen - sie wird als Zubehör für knallhart-nostalgische Lochkamera-Fotografen relativ preiswert angeboten.


Im nächsten Journal werden wir die Argumente der Antiklupen-Befürworter und der Antiklupen-Gegner unter die Lupe, ähm, bzw. das intellektuelle Skalpell legen!




Bildquelle und Literatur

Bildquelle von Abb. 1: Das Buch der Erfindungen, Band I, S. 491 (dort Abb. 371),
Leipzig und Berlin 1876.

Gorelick, Leonard; Gwinneth, A. John: Close Work without magnifying lenses?
Expedition, Philadelphia 23(1981) p. 15.

Paasch, Kasper: The history of optics: From ancient times to the middle ages.
DOPS NYT 14(1999) p. 5-8.

Temple, Robert: The Crystal Sun. Century (Ed.), 2000.



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© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach