Das Bärtierchen-Journal
[Titelfragment 1.1] [Titelfragment 1.2] Titelfragment 1.3]
[Titelfragment 2.1] [Titelfragment 2.2] [Titelfragment 2.3]
[Titelfragment 3.1] [Titelfragment 3.2] [Titelfragment 3.3]


Hoch geschätzt, heiß begehrt und viel kopiert
- zur Geschichte eines guten Bärtierchenbildes -

Allen geduldigen Leserinnen und Lesern des Bärtierchen-Journals wird inzwischen klar sein, daß die Tardigraden, ja sogar die Prachtexemplare großwüchsiger Tardigraden-Arten, extrem winzig sind. So ist auf dem Makrofoto eines dicht von Bärtierchen besiedelten Moospolsters mit bloßem Auge auch beim besten Willen kein einziges Tier zu sehen:


[ Moos mit nicht sichtbaren Bärtierchen ]

Abb.: Gut verstecktes Leben in der Großstadt. Moospolster, aus der Münchner Innenstadt, reich an Bärtierchen - ohne Mikroskop ist natürlich rein gar nichts zu erkennen.

Trotz der nicht zu leugnenden Unsichtbarkeit gibt es viele Beweggründe, etwas über die Bärtierchen zu schreiben, z.B.:

--Der Zoologe kann sie nicht völlig ignorieren, obwohl die Bärtierchen sytematisch nur schwer zu packen sind.
--Der Evolutionsgegner gebraucht die Tiere gerne als anschauliches Beispiel für eine schwer zu erklärende, scheinbar sinnlose Überadaption - wer muß auf der Erde schon Temperaturen von minus 180°C aushalten können ?
--Überall wo auch nur ein wenig  nano  mit im Spiel ist, eignet sich das Bärtierchen als Appetizer.
--Pädagogen wollen und müssen unseren Kindern vermitteln, daß es auch jenseits der vorgefertigten Konsumlandschaften etwas zu sehen und zu erleben gibt.

Ein packender Text ist flott geschrieben, meist fehlt allerdings die passende Abbildung, weil die Bärtierchen nur am Mikroskop zu zeichnen und ausgesprochen schwierig zu fotografieren sind.
So stand auch Bruno Schulz 1955, in der wirtschaftlich armseligen Nachkriegszeit, vor der Aufgabe, seinen Bärtierchen-Beitrag für Aquarianer zu illustrieren. Was lag näher, als ein bereits existierendes Bild zu suchen und zu verwenden? Herr Schulz kopierte schließlich indirekt - wohl ohne sich dessen bewußt zu sein - eines der ältesten Bärtierchenbilder überhaupt:


[Bärtierchen-Illustration, Kopie (B.Schulz, 1955)]

Abb.: Bärtierchen-Illustration, Kopie von 1955 (B. Schulz)

Seitenansichten von Bärtierchen sind übrigens eher selten, weil die Tiere meist entweder mit dem Bauch oder mit dem Rücken zum Betrachter zwischen Objektträger und Deckglas zu liegen kommen.
Aus Ulmers Publikation von 1913 (siehe unten) hatte Schulz sein Bild jedenfalls nicht, weil bei Ulmer die Rückenwulste des Bärtierchens fehlen. Wir müssen deshalb annehmen, daß auch Ulmer auf eine wohl gemeinsame, ältere Quelle zurückgegriffen hat. In diesem Zusammenhang hilft uns ein Fehler in Ulmers Zeichnung weiter: Der Kaumagen eines Bärtierchen ist stets in erster Näherung kugelig und reicht nicht bis zur Mundöffnung.


[Bärtierchen-Illustration, Kopie (G. Ulmer, 1913)]

Abb.: Bärtierchen-Illustration, Kopie von 1913 (G. Ulmer)

Ulmers verfremdeten Kaumagen finden wir ansatzweise auch in Brauers Publikation von 1909, welche wir deshalb als Ulmers Quelle, möglicherweise, wegen der gemeinsamen sieben Rückenwülste, auch als Schulzens Quelle vermuten können:


[Bärtierchen-Illustration, Kopie (A. Brauer, 1909)]

Abb.: Bärtierchen-Illustration, Kopie von 1909 (A. Brauer)

Interessant ist nun, daß Brauers Bild von 1909 eng verwandte Vorläufer hat, die aus einer wiederum älteren, gemeinsamen Quelle stammen dürften.
George Chandler Whipple, Biologe an den Wasserwerken in Boston, hatte für sein Lehrbuch über die Mikroskopie des Trinkwassers (1899) ebenfalls ein Bärtierchenbild benötigt und offensichtlich auch gefunden:


[Bärtierchen-Illustration, Kopie (G.C. Whipple, 1899)]

Abb.: Bärtierchen-Illustration, Kopie von 1899 (G.C. Whipple)

Sehr ähnlich illustrierte Lewis Wright, der 1895 für sein populäres Mikroskopiebuch ein Bärtierchenbild brauchte und wohl ebenfalls von einer älteren Vorlage übernahm:


[Bärtierchen-Illustration, Kopie (L. Wright, 1895)]

Abb.: Bärtierchen-Illustration, Kopie von 1895 (L. Wright)

Wrights Bild könnte zum Teil auf Andrew Pritchards 30 Jahre älterer Vorlage beruhen. Aus den Begrenzungslinien des Magens, vielleicht nach Pritchard gezeichnet, sind nun prunkvolle, perlenartige Stromlinien entstanden, die Mundöffnung erinnert an ein Collier. Bei den Krallen hingegen gibt Wright sich eher minimalistisch.


[Bärtierchen-Illustration, Kopie (A. Pritchard, 1861)]

Abb.: Bärtierchen-Illustration, Kopie von 1861 (A. Pritchard)

Pritchard verweist in seiner Infusorienbibel (1861) ausdrücklich auf Dujardins Publikation und Abbildung von 1838. Der bei Dujardin abgedruckte Begleittext zur Abbildung ist jedenfalls so spezifisch, daß seine Abbildung es verdient, als Urmutter der gesamten Abbildungsfamilie seitlicher Bärtierchen-Ansichten eingestuft zu werden.


Die Saarländische Universitäts- und Landesbibliothek, bei der wir unsere Kopie des Dujardin-Artikels bestellt haben, verweist auf folgende Spielregeln:

"Wir weisen Sie als Empfaenger darauf hin, dass Sie nach geltendem Urheberrecht die von uns uebersandten Vervielfaeltigungsstuecke ausschliesslich zum privaten oder sonstigen eigenen Gebrauch verwenden duerfen und weder entgeltlich noch unentgeltlich in Papierform oder als elektronische Kopie oder die uebermittelten Zugriffdaten verbreiten duerfen. Pro Kopielieferung ist im Pauschalpreis die festgelegte Verlegerpauschale enthalten."

Interessieren würde uns natürlich schon ein wenig, wie der mittlerweile seit längerem verstorbene, französische Prof. Dujardin oder die sanft entschlafene Zeitschrift "Annales des sciences naturelles" nun in den Genuß der Verlegerpauschale kommen werden ...
Die Welt, sie ist verrückt, und Sie, ja Sie, auch Sie werden es eines Tages einsehen.


[Bärtierchen-Illustration, von L. Dujardin, 1838)]

Abb.: Bärtierchen-Illustration, Original von Dujardin, 1838.
Aus (rein moralischen) Copyright-Gründen hier leider nicht zu sehen.

Andererseits können Sie sich anhand der sechs gezeigten Kopien nun vielleicht selbst zusammenreimen, wie das Bild von Dujardin aussehen könnte. Ein kleiner Hinweis: Pritchards Bild ist nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich am dichtesten dran. Oder Sie bestellen einfach über den Zeitschriften-Lieferdienst der öffentlichen Bibliotheken (SUBITO) via Internet. Die Saarländische Universitäts- und Landesbibliothek hat jedenfalls blitzschnell geliefert, per e-mail.



Literatur:

A. Brauer: Die Süßwasserfauna Deutschlands. Eine Exkursionsfauna.
Heft 12: Araneae, Acarina und Tardigrada. S. 186. Jena 1909.

F. Dujardin: Mémoire sur un ver parasite etc. ..., sur le Tardigrade etc. ... , in: Annales des sciences naturelles, sér. 2, Bd. 10 (Zoologie), S. 175 - 191, Tafel 2, Paris 1838.

A. Pritchard: A History of Infusoria, London 1861.

B. Schulz: Bärtierchen im Mikroaquarium. In: Aquarien und Terrarien. S. 139.
Leipzig 1955.

G. Ulmer: Aus Seen und Bächen. S. 76. Leipzig 1913.

G.C. Whipple: The Microscopy of Drinking Water. Tafel XIX. London, New York 1899.

L. Wright: A Popular Handbook to the Microscope. S. 167. London 1895.


Hauptseite



© Text und Fotos von  Martin Mach