Das Bärtierchen-Journal
[Titelfragment 1.1] [Titelfragment 1.2] Titelfragment 1.3]
[Titelfragment 2.1] [Titelfragment 2.2] [Titelfragment 2.3]
[Titelfragment 3.1] [Titelfragment 3.2] [Titelfragment 3.3]



Maritime Bärtierchen (V) - der Batillipesfuß

Neulich gab es hier in München Blitzeis: ein wenig Regen fiel auf den eiskalten Boden und Alle rutschten ganz erbärmlich, egal ob zu Fuß, auf dem Fahrrad, im Auto oder den allseits beliebten paramilitärischen Privat-Panzerkreuzern.

Wer nicht rutscht? Auch nicht auf nassem Glas? Klar, das Batillipes Bärtierchen. Wir haben ja schon gehört, daß man es selbst in voller Bewegung per Pipette von einem nassen, gläsernen Objektträger nicht wegsaugen kann. Und jeder von Euch, der schon mal ein wenig pipettiert hat, weiß, daß so eine Mikroskopiker-Kapillarpipette einen enormen Zug bewirken kann.

Vielleicht sollten unsere vielen Nanoingenieure einmal überlegen, warum die nichtrutschende Schuhsohle, an sich etwas sehr Naheliegendes, Praktisches und Sinnvolles, immer noch nicht erfunden wurde. Da müßte doch eigentlich auch eine Menge Reibach zu machen sein, noch dazu in unserer verläßlich vergreisenden Gesellschaft.

Leider haben wir in der Fachliteratur über die Funktionsweise des Batillipesfußes nicht allzuviel gefunden. Bleibt nichts anderes übrig, als selbst ein wenig zu überlegen. Ein Problem besteht darin, daß wir am Batillipesfuß die Zehen mit den alles entscheidenden Haftlappen sogar bei stärksten Vergrößerungen im Lichtmikroskop kaum mehr befriedigend auflösen können. Der Durchmesser der Haftlappen ist winzig, wenige Tausendstel Millimeter und die dreidimensionale Geometrie der Zehen samt Haftlappen in der Ansicht von oben kaum zu erahnen.


[ Batillipes Bärtierchen, Haftlappen ]

Batillipes sp.-Bärtierchen, Bein mit sechs Zehen, an deren Enden sich die sechs winzigen Haftlappen befinden.


Wir greifen zur Verdeutlichung zunächst auf ein rein visuelles, vereinfachtes Modellsystem zurück, welches lediglich diejenigen Strukturelemente enthält, deren Existenz wir aufgrund von Videoaufnahmen aus verschiedenen Betrachtungswinkeln einigermaßen sicher annehmen können: Ein starrer und fester Zehenstil, der mit seinem Ende, ähnlich wie ein Blattstiel exzentrisch und mit variablem Ansatzwinkel am Rand des Haftlappens ansetzt. Der Haftlappen selbst erscheint extrem dünn und elastisch. Wohl auch deshalb trägt er eine deutlich erkennbare, vermutlich verstärkende Mittelrippe - ansonsten hätte er die Strukturfestigkeit eines Wischlappens und das Bärtierchen will natürlich nicht Sandkörnchen putzen, sondern effizient laufen.


[ Batillipes Fuss, schematisch ]

Batillipes Fuß, schematisch. Hier wird besser klar, warum der Entdecker, Prof. Ferdinand Richters, seine neue Tardigradengattung Batillipes (d.h. "Schaufelfuß") genannt hat.

Ringförmige Saugnapfstrukturen sind, falls doch vorhanden, zumindest nicht einfach erkennbar. Wir sollten uns deshalb fragen, ob es vielleicht auch ohne gehen könnte. Hierzu verwenden wir ein anderes, noch weiter vereinfachendes physikalisches Modell, an dem wir unterschiedliche Konzepte experimentell überprüfen können, und zwar so:


[ Physikalische Approximation ] [ Physikalische Approximation ]

Einfache Federwaage, auch zur Messung von Kräften geeignet.
Via Ebay (sehr billig)

Demonstration der Adhäsion dank eines dünnen Wasserfilms: Deckglas mit angeklebtem roten Greiferstift, auf nassem Objektträger anliegend. Mittels Federwaage versuchen wir, das Deckglas nach oben abzuziehen und können die zum Abreißen erforderliche Kraft messen.

Wenn wir mit der Federwaage am roten Stift ansetzen und lotrecht nach oben ziehen, stellen wir fest, daß Objektträger und Deckglas dank des dünnen Wasserfilms sehr fest aneinander haften. Die Alltagserfahrung am Mikroskop hat uns ohnehin gelehrt, daß eine vergleichbare Adhäsion im Trockenzustand nicht zu erreichen ist und daß andererseits mit steigender Dicke des Wasserfilms die Verbindung schnell wieder schwächer wird. Ideale Adhäsion bietet deshalb nur ein flächiger, einheitlich dünner Wasserfilm. Wir können mutmaßen, daß unter den extrem dünnen, gut anliegenden und flexiblen Haftlappen des Bärtierchens vielleicht auch immer ein derartiger, optimal dünner Wasserfilm zu finden sein wird.
Wenn wir die Federwaage allerdings waagrecht angreifen lassen, bemerken wir schnell, daß der Wasserfilm wie ein Kugellager wirken und das Deckglas dann plötzlich seitlich ausbrechen kann, wie ein satt angesaugtes, welkes Blatt auf glitschigem Pflaster. Man braucht übrigens nicht unbedingt eine Federwaage zum Ausprobieren, weil die erforderlichen Zug- und Scherkräfte auch gut zu erfühlen sind, wenn man den Greiferstift einfach mit den Fingern abzuziehen versucht. Ihr könnt auch mal spaßeshalber ausprobieren, ob zum Beispiel eine einprozentige, zehnprozentige oder konzentrierte Wasserleimlösung dieses seitliche Ausbrechen verhindern würde.

Zusammenfassend halten wir fest, daß unser einfaches Fußmodell sehr wohl eine Haftfunktion aufweist, jedoch merkliche Schwächen hat: Wir wissen z.B. nicht, ob die natürlichen Unebenheiten eines Sandkorns in der Paxis ausreichen würden, um das drohende seitliche Wegrutschen einigermaßen sicher zu verhindern. Tja, und dann haben wir ja auch schon gesehen, daß das Bärtierchen definitiv besser ist und eben auch auf dem Glas festsitzt wie ein (lösbarer!) Fischerdübel. Ganz so einfach wie bei unserem Deckglasmodell kann es in Wirklichkeit wohl demnach nicht sein.


Natürlich haben die Bärtierchen schon rein statistisch betrachtet deutlich bessere Chancen als Homo sapiens : mit Schuhen kann der seine mickrigen zehn Zehen kaum mehr wirkungsvoll einsetzen und bringt es deshalb gerade mal auf zwei Haftlappen, im Auto auf vier. Da ist Batillipes mit 8 Beinen zu je 6 Haftlappen natürlich deutlich besser dran.

Wenn wir im Mikroskop sehr genau hinschauen, bemerken wir, daß unsere Winzlinge auch in diesem Fall noch einen entscheidenden, zusätzlichen Trumpf in der Tasche haben, wie man auf dem folgenden, hier erstveröffentlichten Bild sieht - Unterwasserklebstoff:


[ Batillipes Klebefuss ]

Im extrem schrägen Seitenlicht sind unter günstigen Bedingungen feine, geradlinige Sekretspuren erkennbar, welche von den Haftlappen wegführen und Batillipes beim Naßkornklettern seine enorme Sicherheit verschaffen. Klebstoff wie bei Spiderman - aber echt.

Schon der berühmte Bärtierchenforscher Ernst Marcus vermutete eine Klebstoffwirkung. Er beobachtete, daß die Bärtierchen häufig kleine Partikel an Fäden hinter sich herzogen und bei der isolierten Betrachtung auf dem Objektträger zunehmend verklebten. Marcus verstand auch, wohl als erster, daß Batillipes die umgebenden Sandkörnchen benutzt um seinen Körper kontinuierlich vom Klebstoff zu befreien. Das scheinbar unsinnige und und mutwillige Rammen von Sandkörnchen per Kopfstoß, welches wir schon auf einem früheren Video gesehen haben, hat deshalb eine reinigende Funktion - das Bärtierchen entsorgt auf diese Weise überschüssigen Unterwasser-Powerkleber. Das Sandlückensystem dient demnach nicht nur als Versteck, es hat gleichzeitig die Funktion eines Antiklebstoffscheuermittels.


Hauptseite



© Text und Fotos von  Martin Mach