Bärtierchen, Naturalists und die große Triplett-Verzweiflung |
Abb. 1: Die Abbildung eines erwachsenen Ramazzottius oberhaeuseri-Weibchens in Mark Lawleys Wildlife-Monographie. Ramazzottius oberhaeuseri hieß übrigens ursprünglich Hypsibius oberhaeuseri. Der alte Name fiel jedoch irgendwann einer Reorganisation zum Opfer. Nichts Ungewöhnliches - wir Menschen nutzen solche Verfremdungsmittel schließlich regelmäßig, auch auf anderen Ebenen, man denke nur an die vielen eifrigen Umbenennungen in Zusammenhang mit Firmenübernahmen, an vermeintlich notwendige Logo-Auffrischungen usw. |
Was ist daran nun so besonders? Hier die Erklärung:
Mark Lawley ist ein prominenter Vertreter der "Naturalists",
die in Großbritannien auf eine Jahrhunderte lange Tradition zurückblicken.
Ein stilechter Naturalist beschäftigt sich aus freien Stücken mit der Natur.
Er folgt seinen persönlichen Vorlieben, ist nicht an universitäre Regeln
oder die Auflagen etwaiger Mäzene gebunden.
Gelegentlich arbeitet der Naturalist vorbildlich wissenschaftlich, jedoch nur selten zwanghaft
wissenschaftlich. Sein Einkommen bezieht er meist aus anderen, haufig üppig sprudelnden,
gelegentlich herrschaftlichen Quellen. Wenn Sie sich eine Art Oscar Wilde, mit einem im Spazierstock
integrierten Exkursionsmikroskop als klassischem "Naturalist"
vorstellen, liegen Sie vermutlich nicht völlig falsch. Deutschland hat es leider nicht geschafft,
diesen Menschentypus über das 18. Jahrhundert hinaus durch zwei Weltkriege
hindurch in die Gegenwart herüberzuretten. Wir machen halt eher in Genetik
und Maschinenbau - was ja im Grunde genommen auch keine Schande ist und obendrein
den Bauch besser füllt.
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Die britischen Naturalists sind jedoch dem Bärtierchen-Journal seelenverwandt - sonst würden sie es ja auch nicht lesen. Folgende Abbildung zeigt ein ebenfalls typisch britisches Produkt, nämlich den "Ooak Miniatur-Naturalistenschrank". Das "Ooak" steht für "One of a kind", das heißt: ein Einzelstück. Schauen wir einfach mal in die Seele des Naturalist, sie spiegelt sich ja sehr deutlich in seinen Regalbrettern und Schubladen: |
Abb. 2: Miniaturmodell
eines "Naturalistenschranks". Höhe 16 cm.
Wir sehen etwas Fachliteratur und viele materielle Reste vormals lebendigen Lebens:
menschlicher Totenkopf, Tierschädelknochen, Versteinerungen, in Gläsern gelagerte tierische Präparate,
Schneckengehäuse, reihenweise sadistisch aufgepiekste Schmetterlinge, getrocknete Käfer,
Vogeleier, aus Tieren und Pflanzen gewonnene chemische Substanzen usw. |
Normalerweise müsste auch die
absolut unentbehrliche Einschlaglupe mit dabei sein. Im Maßstab 1:12 ist
diese jedoch praktisch nicht mehr darstellbar, sie wäre ja nur noch einige Millimeter groß.
Deshalb wollen wir die Lupe hier im Text aus eigenen Mitteln substituieren.
In der Mikroskopikerwelt sind die Lupen nicht zuletzt Sammelstück,
Prestigesymbol und natürlich auch Streitgegenstand (wer hat die beste?).
Häufig dreht sich die Diskussion um vermeintlich minderwertige Lupen
mit einfachen Zylinderlinsen, wie man sie gerne bei Ebay unter falscher Flagge ("Triplett", "Dreilinser")
angedreht bekommt. Übrigens auch von deutschen Verkäufern, dann halt
zum fünffachen Preis. Bei der Reklamation einer solchen Mogelpackung erwiderte
uns ein deutscher Händler angemessen selbstbewusst, es handle sich ja doch um eine recht
gute Lupe und im Übrigen sei es ihm völlig egal, wie die Chinesen sie nun
genau herstellten! |
Abb. 3: Eine typische Ebay-Lupen-Enttäuschung. Nach dem Abschrauben des Gewinderinges findet sich sich eine einfache Zylinderlinse statt des versprochenen dreilinsigen, achromatischen Triplett-Systems. Und nein, angeboten wurde das Teil nicht von einem Händler aus Fernost China, sondern einem gewerblichen Profi-Verkäufer aus Deutschland. |
Statt uns nun weiter zu empören, betrachten wir einfach besser ein ehrlicheres und sympathischeres Produkt, und zwar eines der einstmals glanzvollen Münchner Firma Steinheil: |
Abb. 4: Ein imponierendes Relikt aus der - manchmal - guten alten Zeit. Steinheil 3x Lupe. Im hier gezeigten, zerlegten Zustand ist das doppelt verkittete Triplett-System eindeutig zu erkennen. Üblicherweise enthält ein Steinheil-Triplett zwei meniskenförmige Linsen aus Flintglas (das heißt, einem bleihaltigen Glas mit hohem Brechungsindex). Diese beiden Menisken umschließen das dritte, zentrale optische Element, eine bikonvexe Linse aus Kronglas (einem Normalglas mit niedrigerem Brechungsindex). Einschlaglupen mit niedrigen Vergrößerungen enthalten nur sehr selten derartige, verkittete Mehrfachlinsensysem. Auch bei hohem s/w-Kontrast sind unter diesem Steinheil-Triplett praktisch keine Farbfehler zu erkennen. Es bildet die Objekteigenschaften exzellent und "achromatisch" ab. Bei solchen 3fach-Lupen kann mit Fug und Recht von einem Bildqualitäts-Overkill gesprochen werden. |
Abb. 5: Beim Blick auf die Seitenwände des Linsensystems sind die beiden Klebefugen erkennbar. Die Optik der Steinheil 3fach-Lupe hat einen freien Durchmesser von eindrucksvollen 4 cm und bietet ein dementsprechend großes Gesichtsfeld. |
Abb. 6: Beim Bestrahlen mit einer möglichst kurzwelligen UV-Taschenlampe (hier 365 nm) verrät sich der Linsenkitt des Tripletts in Gestalt einer deutlich erkennbaren Trübung. Wenn man die Lampe hin- und herbewegt, können unter Umständen auch die Ränder der Klebeflächen erkennbar werden (kreissscheibenförmige Trübung der Klebeflächen, umgeben von einem ungetrübt erscheinenden Restvolumen). |
Abb. 7: Die Steinheil 3x Lupe im Gegenlicht. Hier offenbart sich die für altertümliches Bakelit (aus Phenol und Formaldehyd fabriziert) typische, nie ganz glatte, sondern vielmehr leicht buckelige Struktur. Mit leicht spitzer Zunge sei angemerkt, dass ein formaldehydbasierter Kunststoff ja auch trefflich zur Biologenzunft passt, weil diese ihre forscherischen Mikromorde ebenfalls gerne mit Formaldehyd (in Gestalt von Formalinlösung) bewerkstelligt. |
Abb. 8: Der letzte I-Strich des Wörtchens "Steinheil" auf der Lupenbeschriftung im senkrechten Auflicht. Mehr als 50 (!) Kreisrandstrukturen, wohlgemerkt bei einem einzigen Buchstaben, zeugen von der unendlichen Mühe, die in die metallische Gussform für die serielle Fertigung der Lupen investiert wurde. Die Steinheil 3fach-Lupe ist somit nebenbei auch rührend anschauliches Dokument für eine lange zurückliegende, äußerst mühsame Industriearbeit, nämlich das für die Inschrift tausendfach ausgeführte Ansetzen eines Fräswerkzeugs mit einem Kopfdurchmesser von gerade mal einem halben Millimeter. Ohne jegliche Robotik. Die Spuren der menschlichen Mühen haben sich somit, nun als erhabener Positivabdruck vervielfältigt, in jeder dieser alten Steinheil-Lupen erhalten. Man muss es halt nur wissen und sehen. |
Somit haben auch der Naturalist, der Sammler, der Ebay-Käufer und der Ebay-Verkäufer ein eindrucksvolles Anschauungsbeispiel für vergangene menschliche Arbeitsleistung vor Augen. Und da soll noch einer behaupten, unsere Natur- und Lupenliebe wäre ja doch nur ein menschenabgewandtes, sublimiertes Spinner- und Misanthropentum! |
Literatur: |
© Text, Fotos und Filme von Martin Mach |