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Exkurs: Das mikroskopische Sehen im Licht der Erkenntnisphilosophie (IV)

Aufräumen bei der blauen Linie!


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Abb. 1: Die bizarre blaue Linie um ein Bärtierchen-Ei - unser Leitmotiv seit Dezember 2023

Zugegeben, wir haben unserer Leserschaft immer wieder Sand in die Augen gestreut, sie aus purem Übermut in bizarre Sackgassen gelockt. Man denke nur an die, in Zusammenhang mit der blauen Linie vorgebrachte Diskussion der wahrheitsgetreuen Oktopus-Fotografie oder die Trauer um das Vergreisen der Hertel&Reuss ABS-Fokusspirale!

Zu unserer Verteidigung sei immerhin angemerkt, dass wir speziell bei der blauen Linie auf eine intensivere Interaktion gehofft hatten, die sich im Lauf der Monate schrittweise entwickeln sollte. Leider erreichten uns nur zwei Mail-Rückmeldungen zur blauen Linie (am 14. Februar immerhin eine mit Volltreffer!), während sich offensichtlich erheblich mehr Zeitgenossen für die Oktopus-Verirrung oder die technischen Feinheiten der Hertel&Reuss-Mikroskope zu interessieren scheinen.

Nachdem mittlerweile ein Leser die Lösung gefunden hat, möchten auch wir nun sofort (ebenfalls am 14. Februar) die Katze aus dem Sack lassen und eine, eigentlich erst für März vorbereitete Erklärung vorlegen. Sie basiert auf zwei Simulationsexperimenten.



Simulation #1

Wie im Februar-Journal dokumentiert, zeigen die hier diskutierten Bärtierchen-Eier die blaue Linie nur im intakten, kugelrunden Zustand. Auch dürfen wir annehmen, dass die Eihülle im Vergleich zur wässrigen Umgebung aus einem optisch dichteren Medium besteht. In dieser ersten Simulation betrachten wir deshalb einen jahreszeittypisch trist-neutralgrauen Himmel durch eine Glas-Halbschale, deren Kugelform unserem Bärtierchen-Ei von der Geometrie her entspricht. Genau wie das Ei besteht auch sie aus einem optisch dichteren Medium (Glas) in optisch dünnerer Umgebung (Luft).


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Abb. 2: Simulation der Konversion von neutralgrauem Tageslicht in satt blaues Licht. Zur besseren Handhabung ist die hier gezeigte 8 cm Halbkugel auf eine Glasscheibe geklebt. Sobald man den gezeigten Aufbau quasi tangential gegen den Himmel betrachtet und gleichzeitig um die Hochachse dreht, zeigen sich zunächst die üblichen, aufeinander folgenden Farben des Regenbogenspektrums in Form von konzentrischen Ringen. In der letzten, hier abgebildeten Extremposition "schafft" jedoch praktisch nur noch blaues und türkisblaues Licht den Eintritt in die Glaskugel, dann folgt bereits optische Finsternis. Sozusagen ein Prisma der zweiten Art!

Die - im Grunde genommen triviale - Schlussfolgerung lautet, dass eine kugelig gekrümmte Oberfläche unter extremen Bedingungen, hier einem sehr flachen Licht-Eintrittswinkel, nicht nur wellenlängendispersiv, sondern zusätzlich wellenlängenfilternd wirken kann.



Simulation #2

Wir können nun das Experiment in seiner Dimension verkleinern und auf die typischen mikroskopischen Beobachtungsbedingungen erweitern. Mangels geeigneter winziger Glaskugeln, geschweige denn Glas-Hohlkugeln kommen ersatzweise dünne Glasstäbe und dünne Glaskapillaren zum Einsatz. Diese lassen sich mit Klebestreifen auf einem Objektträger befestigen, wodurch wir uns schon mal den üblichen mikroskopischen Betrachtungsbedingungen annähern. Unter dem Stereomikroskop sehen die genannten Objekte genau so aus, wie man erwarten sollte: Es sind eben einfach dünne Glasstäbe bzw. dünne Glasröhren, ohne Farbakzente:


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Abb. 3: Der Versuchsaufbau, hier im Stereomikroskop, bei geringer Vergrößerung. Der mit Hilfe von transparentem Klebefilm befestigte Glasstab hat einen Durchmesser von 180 µm (0,18 mm) und schaut hier - noch - völlig unverdächtig aus.


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Abb. 4: Das selbe Objekt wie in Abb. 3, jedoch nun bei höherer Vergrößerung, im großen Mikroskop. Es erfordert etwas Geduld, die in Abb. 2 gezeigte Grenzbedingung zu erreichen (Variation von Kondensorhöhe und Aperturblende in kleinen Schritten). Dann bestehen jedoch gute Chancen, sowohl bei Glasstäben als auch bei Glasröhren, die hier gezeigten, sehr prägnanten, blauen Konturlinien zu sehen.


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Abb. 5: Wie Abb. 4, nur bei höherer (Ausschnitts-)Vergrößerung. Man beachte, dass die blauen Linien nicht deckungsgleich mit der Glaskörperwandung, sondern etwas versetzt, weiter innen im Glasvolumen zu liegen scheinen. Dieser Versatz könnte die, fast schon surreal künstlich erscheinende Charakteristik der Kontur in Abb. 1 befördern.


Resümee: Die beiden Simulationen legen die Vermutung nahe, dass die blaue Linie in Abb. 1 durch selektive Filterung, im Zusammenwirken mit sphärisch verursachter Dispersion zu erklären ist. Man könnte es auch so formulieren, dass unter einem besonders flachen Grenzwinkel eintreffende Lichtstrahlen derart gebeugt werden, dass nur noch deren Blauanteil in ein oberflächlich transparentes, sphärisches Objektvolumen eindringen kann. Die übrigen Farben des weißen Mikroskoplichts schaffen sozusagen die Kurve in das Objekt nicht und bleiben deshalb ausgeblendet. Im Ergebnis erscheint eine besonders kräftige (primäre), reine Spektralfarbe. Der Blau-Effekt wäre demnach gleichzeitig Artefakt und Objekteigenschaft, je nach Sichtweise: "Schuld" hätten nicht das Mikroskop, sein Objektiv oder sein Kondensor, sondern vielmehr die hoch symmetrische Wandungskrümmung eines oberflächlich transparenten Untersuchungsobjektes, welche den ordnungsgemäßen mikroskopischen Strahlengang ad absurdum führt.


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© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach