Das Bärtierchen-Journal
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Seliges Schlummern? - Trockenzustand mit Verfallsdatum

In der Zeitschrift  Hydrobiologia  erschien vor kurzem der Berichtsband zum 9. Internationalen Tardigraden-Symposium in Florida.


[ Hydrobiologia Titel ]

Deckblatt des Hydrobiologia-Sonderheftes
zum 9. Internationalen Tardigradensymposium
in Tampa, Florida, 28. Juli - 1. August 2003.

Dordrecht 2006. ISSN 0018-8158.


Ein besonders spannender und auch für den Mikroskopie-Amateur interessanter Beitrag von Lorena Rebecchi und anderen Tardigradenforschern geht der Frage nach, wie lange die Bärtierchen tatsächlich in der  Trockenstarre   überleben können. Hierzu wurde von Rebecchi et al. am 14. April 1999 eine große, mit Tardigraden reich besetzte Flechtenprobe geborgen und ab diesem Zeitpunkt unter Innenraumbedingungen trocken aufbewahrt. In regelmäßigen Abständen entnahmen die Forscher/innen jeweils eine Teilmenge des Flechtenmaterials, wässerten diese und zählten die lebensaktiven Tardigraden. Über 4 ½ Jahre hinweg, bis zum 5. September 2003 wurde so das Wiederauflebensverhalten von insgesamt 10.730 (!) Tardigraden-Individuen wissenschaftlich untersucht.


Gegen Ende des Beobachtungszeitraums sah die Überlebensbilanz schon bei den mutmaßlich lebenszäheren  Eutardigraden-Bärtierchen  nicht mehr allzu rosig aus (alle Tabellendaten nach L. Rebecchi et al., gekürzt). Eine Überlebensrate von 0,3 %, wie in der Tabelle unten, letzte Zeile rechts, bedeutet schließlich im Klartext, daß von den gezählten 344 Eutardigraden der Art  Ramazzottius oberhaeuseri  nach 1.604 Tagen Trockenstarre nur noch ein einziger (!) erwachte.

DatumArtTage trockenIndividuenzahlDavon lebendig [%]
03.04.2002R. oberhaeuseri1085  586  40,4  
22.07.2002R. oberhaeuseri1192  645  21,7  
05.09.2003R. oberhaueseri1604  344  0,3  


Geradezu hoffnungslos erscheint die Situation bei den  Heterotardigraden-Bärtierchen, in diesem Fall den von uns so hoch geschätzten Echiniscen (Daten ebenfalls von L. Rebecchi et al.). Bereits am 20. März 2001, d.h. nach rund zwei Jahren (706 Tagen), erwachten nur noch knapp zehn Prozent, anschließend ging die Überlebensrate gegen Null:

DatumArtTage trockenIndividuenzahlDavon lebendig [%]
20.03.2001Echiniscus spp.706  161  9,9  
17.10.2001Echiniscus spp.917  90  0,0  
03.04.2002Echiniscus spp.1085  74  1,4  
22.07.2002Echiniscus spp.1192  92  0,0  
05.09.2003Echiniscus spp.1604  36  0,0  


Lorena Rebecchi et al. haben somit plausibel dargestellt, daß die Trockenstarre keineswegs ewig dauern darf, weil nach zunehmender Trockenzeit immer weniger Bärtierchen erwachen. Eine unbegrenzte "Lebenskonserve", im Stile der schlafreisenden Astronauten gewisser Science Fiction Filme, gibt es anscheinend sogar bei den Bärtierchen nicht. Wir müssen davon ausgehen, daß destruktive chemische Reaktionen stattfinden, welche auch den gut konservierten Lebensapparat der Tardigraden angreifen und ihn mit der Zeit irreversibel zerstören.
Die in der populären Literatur häufig zitierte Einzelbeobachtung eines nach 120 Jahren wiedererweckten Bärtierchens erscheint mittlerweile leider zunehmend unwahrscheinlich. In der Fachliteratur wird mittlerweile durchwegs ein niedrigerer Grenzwert, typischerweise von maximal 10 Jahren angenommen.



Exkurs: Die existentiellen Abgründe hinter den Zahlenwelten

Als Bewohner einer zunehmend komplizierten Welt streben wir verzweifelt nach Klarheit. Wir lauschen selbsternannten Lotsen und geben "Machbarkeitsstudien" in Auftrag. Leitende Persönlichkeiten heuern externe Berater an und Politiker lassen sich "coachen", weil ihnen sonst niemand mehr glauben würde.

Besonders Zahlentabellen, d. h. Zahlengefängnisse mit sauber eingelochten Einzelhaft-Zahlenwerten scheinen einen Ausweg zu offerieren: Wir hoffen stillschweigend, daß die komplexen Fakten zuverlässig in einfach verständliche Zahlen umgesetzt wurden. Endlich ist Schluß mit der Unsicherheit - schließlich quantifiziert jeder Zahlenwert der Tabelle einen kleinen Teil der realen Welt. Oder etwa nicht?

Gerade die obenstehenden Tabellen sind gut geeignet, grundsätzliche Probleme und Grenzen von tabellarischen Zahlendarstellungen zu veranschaulichen. Tückische Dezimalstellen und die wahrhaft miese Null verderben uns nämlich auch in diesem Fall den Spaß an der vermeintlichen Präzision:

Als eifrige Sympathisanten der Bärtierchen und als Bewunderer ihrer außergewöhnlichen Eigenschaften betrachten wir insbesondere die "0,0%"-Überlebensquoten der Echiniscen notgedrungen mit ein wenig parteiischem Mißtrauen ;-)
Bei den Echiniscen beruhen die "0,0%"-Tabellenwerte mal auf 90, mal auf 92 und am Schluß sogar nur auf 36 Individuen. Die Zahl Null ist jedoch eine ganz besonders tückische Größe. Je weiter man sich ihr nähert, umso diffuser wird sie. Die Gruppe Rebecchi et al. trifft keine Schuld, weil sie ja für die Tabelle sinnvollerweise eine einheitliche Dezimaldarstellung gewählt hat, welche z.B. beim Wert von "1,4 %" auch besser zutrifft als die gerundete Aussage "1 %" bzw. "2 %". Andererseits kann man bei nur 36 Individuen streng genommen schon nicht mehr mit Sicherheit sagen, daß die Überlebensrate auch nur unter 2% liegt, geschweige denn, daß sie, wie angegeben tatsächlich 0,0 Prozent beträgt. Um beispielsweise zwischen 0,0% und 0,1% unterscheiden zu können, müßte man mindestens 1.000 Individuen (!) auszählen.

Zwischen zwei und Nullkommanull Prozent besteht jedoch in der Natur ein gewaltiger Unterschied. Schließlich geht es um Sein oder Nichtsein der betreffenden Population. Auch ein einziges Weibchen würde ja unter Umständen ausreichen, um den Fortbestand der Art zu sichern. Daß Mutter Natur gelegentlich verschwenderisch mit der Biomasse umgeht, ist uns allen wohlbekannt. Wir beschönigen es gerne als "Evolution" oder "natürliche Auslese". Nüchtern betrachtet ist es eine auf viele Schultern verteilte Lebensversicherung, von der unter Umständen nur ein einziges, glückliches Individuum profitiert. So betrachtet, kann der existenzielle Unterschied zwischen 0,0% und 0,1% wichtiger sein als der nur zahlenmäßige zwischen 0,1% und 100%. Verrückt ist sie schon, unsere Welt.


Eine Untersuchung nach dem glänzenden Vorbild Rebecchis könnte, wenn auch vielleicht nicht ganz so umfangreich und professionell, gut als zoologische Praktikumsaufgabe an einer Schule oder auch von uns Amateuren durchgeführt werden.

Nach der Lektüre des erwähnten Artikels haben wir uns jedenfalls an eine Moosprobe erinnert, welche seit Mitte September 2002 unbeachtet auf dem Schrank stand:



[  4 Jahre alte Moosprobe mit Bärtierchen ]

Reich mit Echiniscen besetztes Dachmoos aus Frankreich,
trocken abgenommen im Urlaub 2002, seitdem in der verschlossenen Flasche im Innenraum gelagert.



Und nun raten Sie mal, ob darin jetzt, d. h. nach gut vier Jahren Trockenzeit noch lebensfähige Echiniscen sind? Versuchsergebnis folgt.



Literatur

J.H. Crowe: The physiology of cryptobiosis in tardigrades.
Memorie dell'Istituto Italiano di Idrobiologia 32 Suppl. (1975) S. 37 - 59.

L. Rebecchi, R. Guidetti, S. Borsari, T. Altiero, R. Bertolani: Dynamics of long-term anhydrobiotic survival of lichen-dwelling tardigrades. In: The Biology of Tardigrades.
Hydrobiologia 558 (2006) S. 23 - 30. ISSN 0018-8158.

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© Text und Fotos von  Martin Mach