Exkurs: Die existentiellen Abgründe hinter den Zahlenwelten
Als Bewohner einer zunehmend komplizierten Welt streben wir verzweifelt
nach Klarheit. Wir lauschen selbsternannten Lotsen und geben "Machbarkeitsstudien"
in Auftrag. Leitende Persönlichkeiten heuern externe Berater an und
Politiker lassen sich "coachen", weil ihnen sonst niemand mehr glauben würde.
Besonders Zahlentabellen, d. h. Zahlengefängnisse mit sauber eingelochten
Einzelhaft-Zahlenwerten scheinen einen Ausweg zu offerieren: Wir hoffen stillschweigend,
daß die komplexen Fakten zuverlässig in einfach verständliche Zahlen umgesetzt
wurden. Endlich ist Schluß mit der Unsicherheit - schließlich
quantifiziert jeder Zahlenwert der Tabelle einen kleinen Teil der realen Welt.
Oder etwa nicht?
Gerade die obenstehenden Tabellen sind gut geeignet, grundsätzliche
Probleme und Grenzen von tabellarischen Zahlendarstellungen zu veranschaulichen.
Tückische Dezimalstellen und die wahrhaft miese Null verderben uns
nämlich auch in diesem Fall den Spaß an der vermeintlichen Präzision:
Als eifrige Sympathisanten der Bärtierchen und als Bewunderer ihrer
außergewöhnlichen Eigenschaften betrachten wir insbesondere die
"0,0%"-Überlebensquoten der Echiniscen notgedrungen mit ein wenig
parteiischem Mißtrauen ;-)
Bei den Echiniscen beruhen die "0,0%"-Tabellenwerte mal auf 90, mal auf 92
und am Schluß sogar nur auf 36 Individuen. Die Zahl Null ist jedoch
eine ganz besonders tückische Größe. Je weiter man sich
ihr nähert, umso diffuser wird sie. Die Gruppe Rebecchi et al.
trifft keine Schuld, weil sie ja für die Tabelle sinnvollerweise eine einheitliche
Dezimaldarstellung gewählt hat, welche z.B. beim Wert von "1,4 %" auch
besser zutrifft als die gerundete Aussage "1 %" bzw. "2 %". Andererseits
kann man bei nur 36 Individuen streng genommen schon nicht mehr mit Sicherheit sagen,
daß die Überlebensrate auch nur unter 2% liegt, geschweige denn,
daß sie, wie angegeben tatsächlich 0,0 Prozent beträgt. Um
beispielsweise zwischen 0,0% und 0,1% unterscheiden zu können,
müßte man mindestens 1.000 Individuen (!) auszählen.
Zwischen zwei und Nullkommanull Prozent besteht jedoch in der Natur
ein gewaltiger Unterschied. Schließlich geht es um Sein oder Nichtsein
der betreffenden Population. Auch ein einziges Weibchen würde ja unter Umständen
ausreichen, um den Fortbestand der Art zu sichern. Daß Mutter
Natur gelegentlich verschwenderisch mit der Biomasse umgeht, ist uns allen wohlbekannt.
Wir beschönigen es gerne als "Evolution" oder "natürliche
Auslese". Nüchtern betrachtet ist es eine auf viele Schultern
verteilte Lebensversicherung, von der unter Umständen nur ein
einziges, glückliches Individuum profitiert. So betrachtet, kann der
existenzielle Unterschied zwischen 0,0% und 0,1% wichtiger sein als der
nur zahlenmäßige zwischen 0,1% und 100%.
Verrückt ist sie schon, unsere Welt.
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