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Batillipes noerrevangi (*) von der Ostsee

Wie im letzten Journal berichtet, wirkte unsere Ostseewasserprobe aus Prerow zunächst ziemlich unbelebt, geradezu wüstenhaft. Nach einigen Wochen stabilisierte sich jedoch die Situation auf mirakulöse Weise: Der anfangs als recht penetrant empfundene Schwefelwasserstoffgeruch verschwand und irgendwoher krochen sie dann auch wieder hervor, unsere geschätzten Bärtierchen. Wirklich merkwürdig.

Die Lebensvorgänge nahmen ihren gewohnten Lauf und es fanden sich reichlich abgelegte Bärtierchenhäute, die Sie, liebe Leserinnen und Leser, hier schon öfters gesehen haben.


[ Abgestreifte Cuticula eines Ostsee-Tardigraden ]

Sand-Meerwasserprobe aus Prerow mit der abgestreiften Cuticula eines Ostsee-Tardigraden. Bei der Häutung verbleibt der Magen-Darm-Inhalt in der alten Hauthülle und kann dort mikrobiell abgebaut werden. Eine maximal umweltschonende Art der biologischen Entsorgung! Der auf seine Autobahntoiletten angewiesene Homo sapiens verfügt, wie wir alle aus leidvoller Erfahrung wissen, nicht über vergleichbar effiziente, umweltschonende Entsorgungsmechanismen. Er ist statt dessen ziemlich erbärmlich auf Chemietoiletten und Wasserspülungen angewiesen.


[ Abgestreifte Cuticula eines Ostsee-Tardigraden ]

Eine andere Cuticula aus der Ostseewasserprobe von Prerow, diesmal bei höherer Vergrößerung. Das Mikroskopieren der Cuticulae ist nicht ganz einfach, weil sie sich beim Herauspipettieren häufig verwinden und dann einer hoffnungslos zerknitterten Zellophanhülle ähneln.
Länge knapp 0,2 mm.

Auch wenn wir die Hauthüllen gerne anschauen, um anatomische Details schonend studieren zu können, interessieren uns die lebendigen Bärtierchen natürlich noch viel mehr. Schade nur, daß sie eine ausgeprägte Neigung haben, sich zwischen den Sandkörnchen zu verstecken!


[ Ostsee-Tardigrade, Totale ]

Ostsee-Bärtierchen, den Kopf unter einem Sandkorn versteckend.


Wenn Sie das obige Foto ein wenig genauer betrachten, werden Sie feststellen, daß hier eine Art zu sehen ist, die wir im Journal bislang nicht gezeigt haben: Der Zweizack-Schwanzfortsatz ist ein hier neues, sehr charakteristisches Artmerkmal. Die in früheren Journalen ausführlich dargestellte Spezies Batillipes mirus beispielsweise hatte ja nur einen einzigen, deutlich längeren Schwanzfortsatz.

Auf dem Objektträger benehmen sich die Bärtierchen recht lebhaft, wackeln mit Kopf und Hinterteil, strampeln und zappeln. Auf diese Weise entziehen sie sich recht wirkungsvoll der photographischen Dokumentation:


[ Ostsee-Tardigrade ]

Ostseetardigrade. Die Bildunschärfe verdeutlicht die typischen Querbewegungen von Kopf und Hinterleib. Deutlich zu erkennen: die Mundöffnung.


Mit einer Portion Geduld erleben wir jedoch gelegentlich Momente relativer Ruhe, die auch ohne Blitz Detailfotos in natürlicher Lebenssituation erlauben:


[ Ostsee-Tardigrade, Hinterleib ]

Detailfoto vom Hinterleib mit dem oben erwähnten Schwanzfortsatz in Form eines Zweizacks. Weibchen mit reifem Ei (im Bild grau).


Der Vollständigkeit und Höflichkeit halber sei auch mal ein Kopf gezeigt:


[ Ostsee-Tardigrade, Detailaufnahme von Vorderleib und Kopf ]

Ostsee-Tardigrade, Männchen, Detailaufnahme von Vorderleib und Kopf.


Die beiden folgenden Aufnahmen zeigen zwei lappenartige Ausbuchtungen an den Körperflanken und eine Gesamtansicht. Das symmetrisch-spitz auslaufende Darmende ist, wie wir in einer früheren Ausgabe des Bärtierchen-Journals erläutert haben, sicherer Hinweis auf ein Männchen.


[ Ostsee-Tardigrade, Hinterleib mit seitlichen Ausbuchtungen ]

Ostsee-Tardigrade, Männchen, Detailaufnahme vom Hinterleib mit "Zweizack" und lateralen Lappen zwischen drittem und viertem Beinpaar.


[ Ostsee-Tardigrade, Totale ]

Ostsee-Tardigrade, Männchen, Totale. Körperlänge ca. 0,2 mm.


Bei extrem hoher Vergrößerung offenbart die Cuticula eine Struktur, die wie gekörnt erscheint.


[ Ostsee-Tardigrade, Cuticula ]

Ostsee-Tardigrade, Struktur der Cuticula bei hoher Vergrößerung.


Und, last but not least, unten eine stark vergrößerte Aufnahme zweier, auf dem Objektträger anhaftender Zehen, deren Kontur an Saugnäpfe denken läßt (auf die parallel erfolgende Unterwasser-Klebstoffsekretion hatten wir ja schon wiederholt hingewiesen). Sehr wahrscheinlich ergänzen sich Saug- und Klebewirkung und verhindern gemeinsam, daß die Bärtierchen von Wellen und Unterwasserströmungen weggerissen werden.


[ Ostsee-Tardigrade, Detail: Haftscheiben ]

Ostsee-Tardigrade, Detail der Cuticula, ovale Konturen zweier, auf dem Objektträger anliegender Haftscheiben eines Fußes.


Alle hier geschilderten Artmerkmale treffen auf

Batillipes dicrocercus Pollock (1970)

zu, so daß wir der Ostsee guten Gewissens eine weitere Bärtierchenart gutschreiben dürfen.
Sehr schön - es gibt in der Ostsee eben nicht nur fiese Feuerquallen, wie manche Miesepeter meinen, sondern auch harmlose und interessante Bärtierchen!


(*) Der besonderen Aufmerksamkeit und dem freundlichen Hinweis unseres Lesers Frans Roza ist es zu verdanken, dass wir unsere ursprüngliche, leider falsche Bestimmung des hier beschriebenen maritimen Bärtierchens als Batillipes dicrocercus mittlerweils zum besser passenden Batillipes noerrevangi korrigieren konnten.



Literatur

Reinhardt M. Kristensen: On the fine structure of Batillipes noerrevangi.
Zoologischer Anzeiger, 197 (1976), S. l29 - l50.




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© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach