[Titelfragment 1.1] [Titelfragment 1.2] Titelfragment 1.3]
[Titelfragment 2.1] [Titelfragment 2.2] [Titelfragment 2.3]
[Titelfragment 3.1] [Titelfragment 3.2] [Titelfragment 3.3]



Bärtierchen-Lektüre, Teil 2: "La vie des tardigrades" von R.-M. May (1948)

Es mag klein sein, ganz klar auch ein wenig vergilbt und stockfleckig - trotzdem ist es schwer zu toppen. Als Publikation des renommierten Pariser Verlages Gallimard erschien das Paperback von May in der liebevoll gestalteten "La vie ..."-Reihe zusammen mit Titeln wie [von uns übersetzt]:

-- "Das Leben der Austern"
-- "Das Leben der Seidenwürmer"
-- "Das Leben der Kolibris"

Und wir, heute? Wir sind eben verdammt cool und halten uns lieber an das "Das Leben des Brian".


[ "La vie des tardigrades" von Raoul-Michel May; Titelblatt ]   [ "La vie des tardigrades" von Raoul-Michel May; Beispielseite ]

Raoul-Michel Mays kleines Bärtierchenbuch läßt sich locker hinter einem DIN A5 Blatt verstecken. Fernab von moderner Wissenschaftskälte - eine Rarität für Sammler. 

 

Hier stellvertretend Tafel 29, mit den Formveränderungen eines Echiniscus-Bärtierchens während des Eintrocknens. Alles in Farbe, und das im wirtschaftlich mageren Jahr 1948, Respekt!

Der Autor führt uns plastisch illustriert vor Augen, wie räuberische Bärtierchen der Art Milnesium tardigradum arglose Rädertierchen überfallen und bei lebendigem Leib leerschlürfen. Da wir Mays Copyright im Rahmen dieser Buchvorstellung respektieren möchten, zeigen wir zur Verdeutlichung stellvertretend eines unserer eigenen Fotos mit ähnlichem Tatbestand:

[ Macrobiotus sp. Bärtierchen mit halb ausgesaugtem Rädertierchen ]

Macrobiotus sp. Bärtierchen mit halb ausgesaugtem Rädertierchen (rechts im Bild). Bildbreite ca. 200 µm

Ganz besonders charakteristisch für den Stil des Buches erscheint uns das Kapitel "Kurze Geschichte einer langdauernden Kontroverse", in dem der viele Jahrzehnte währende Gelehrtenstreit um den Trockenzustand der Bärtierchen unterhaltsam und informativ nachgezeichnet wird. May zufolge wurden die streitenden Parteien 1859 bei der " Société de Biologie" in Paris vorstellig. Eine hochrangig besetzte Expertenkommission (Broca, Balbiani, Berthelot, Brown-Séquard, Dareste, Guillemin und Robin) diskutierte das umstrittene Wiederaufleben der Mikrofauna in sage und schreibe 42 (!) Plenarsitzungen. In einstimmigem Schiedsspruch bestätigte die Kommission schließlich, daß Bärtierchen und Rädertierchen trotz zeitweiliger vollständiger Austrocknung wieder zu normalem Leben zurückfinden können.

May erklärt uns weiterhin wunderbar einleuchtend, warum scheinbar blinde Bärtierchen (d.h. Bärtierchen ohne Augenpigment) sich im Verhalten nicht von ihren Artgenossen mit Augenpigment unterscheiden: das Augenpigment mag zwar die Sehleistung verstärken, sehentscheidend ist jedoch die normalerweise völlig unsichtbare Sinneszelle in direkter räumlicher Nachbarschaft.

In den übrigen Kapiteln geht es unter anderem um die bizarren Eigenschaften der Bärtierchen- Zellmembranen, die im Tönnchenzustand Wasser durchlassen, jedoch gleichzeitig die bekannte Immunität gegen so lebensfeindliche Lösemittel, Farbstoffe, Säuren etc. bedingen.

Das abschließende Kapitel mit den Arbeitsanweisungen mag zwar aus heutiger Sicht wissenschaftlich überholt sein, es enthält jedoch ein Bild mit dem durchlöcherten Löffel, der außerhalb der Tardigradenforschung lediglich eine Schattenexistenz in Diätwitzen führt, den Tardiologen jedoch zum Abschöpfen der Moospflänzchen aus den Petrischalen nützliche Dienste erweisen kann.

Summa summarum ist "La vie des tardigrades" als bibliophile Kostbarkeit im Schrank des Bärtierchenconnoisseurs schlichtweg unverzichtbar. Und weil es in französischer Sprache verfaßt ist, an der die Mehrzahl der Deutschen scheitert, bekommen Sie es in der Regel preiswert. Verweisen Sie beim Feilschen einfach auf das verfärbte Papier sowie die Stockflecken. Stellen Sie unmißverständlich klar, daß sich außer Ihnen sowieso niemand für derart mickrige "Wurmheftchen" interessieren würde!


Literatur

Raoul-Michel May: La Vie des Tardigrades. 121 Textseiten, 40 Bildtafeln und eine Bibliographie im Anhang. Gallimard, Paris 1948.




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© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach