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Bärtierchen: Old style Zeichnung vs. Old style Mikrofoto

Als wir vor 20 Jahren mit dem Bärtierchen-Journal begannen, hatten wir ein klares, wenn auch nicht einfach in Worte zu fassendes Ziel: Wir wollten zeigen, dass da noch etwas neben uns Menschen existiert, etwas sehr-sehr Kleines. Etwas Kleines mit Augen, mit jeder Menge Muskeln und Nerven, mit Hirn, ja vielleicht sogar mit einem Mikro-Bewusstsein (frech, nicht wahr?). Jedenfalls eine Art Parallelwelt.

Und auch heute noch, jedes Mal, wenn einer unserer Lieblinge unter dem Stereo-Mikroskop auftaucht, freuen wir uns, dass wir auf diese Wunder der Natur aufmerksam werden durften und sie jederzeit betrachten können. Wahrhaft minimalistische, ungemein zähe Manifestationen des Lebens auf unserem blauen Planeten (zugegeben, lauter sprachliche Gemeinplätze, aber hier zutreffend!).


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Abb. 1: Paradebeispiel städtischer Mikrofauna - ein Echiniscus-Bärtierchen. Es stammt vom Dach eines Münchner Mülltonnenhäuschens. Das Foto zeigt den Blick auf eine Petrischalenprobe durch ein MBS-10 Stereomikroskop (14x Okular, 4x Objektiv), aufgenommen mit Hilfe einer Smartphone-Kamera. Der Sehfelddurchmesser liegt unter diesen Bedingungen bei 4,2 mm. Das hier im Auflicht hellorange erscheinende Bärtierchen ist deshalb knapp 0,3 mm lang, wäre demnach unter günstigen Bedingungen gerade noch mit bloßem Auge als kleiner farbiger Fleck erkennbar.

Auch wenn wir seit nun mittlerweile 20 Jahren Bärtierchen fotografieren und filmen, müssen wir doch eingestehen, dass ihre Dreidimensionalität und wunderbare Transparenz beim Blick durchs Mikroskop viel klarer erscheint als auf unseren besten Fotos. Hinzu kommt das Problem der Glaubwürdigkeit: Nach wie vor kann es passieren, dass sogar "Studierte" unsere Internetseiten für einen Witz halten und mordmäßig erstaunt sind, wenn wir das Gegenteil beteuern.

Die Bärtierchenforscher des frühen 20. Jahrhunderts hatten zudem technische Probleme mit der Mikrofotografie, bevorzugten deshalb Zeichnungen zur Dokumentation ihrer mikroskopischen Beobachtungen. Werfen wir ganz einfach einen Blick auf das in Abb. 2 gezeigte Bild von Echiniscus gladiator, das wir dem schottischen Biologen James Murray verdanken. Ohne weitere Informationen würde man angesichts dieses Bildes ganz klar an einen Aprilscherz oder vielleicht eine Karikatur in Zusammenhang mit dem aktuellen U.S.-amerikanischen Präsidentenwahlkampf denken. Tatsächlich wurden die Bärtierchen immer wieder in den Wahlkampf einbezogen, weil die politischen Gegner das aktuellen U.S.-Präsidenten Donald Trump gelegentlich mit dem Wunsch zitiert wurden, seine bizarre Amtszeit nach Art der Bärtierchen, quasi im Dauerschlaf zu überstehen.


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Abb. 2: Das Bärtierchen Echiniscus gladiator, mutmaßlich so von seinem Entdecker gezeichnet. Man könnte einen seichten Scherz vermuten - es ist aber keiner.

Auch im Falle der Zeichnungen ergab sich sehr früh das Problem der möglichst realitätsnahen, wissenschaftlichen Dokumentation der Bärtierchen, während die dreidimensionale Darstellung, der lebensnähere "Habitus" in Misskredit geriet. Die Lehrbücher zeigen deshalb die Bärtierchen entweder von der Seite, wie in Abb. 2, oder so, wie man sie im Mikroskop normalerweise sieht, von oben, in der Draufsicht. Die Seitenansicht betont die Bärenform, unterschlägt jedoch üblicherweise vier der acht Beine. Dem Wunsch nach perfekter "wissenschaftlicher" Detailtreue folgend, zeigen zudem die Krallen in den Seitenansichten zur Seite, was leider nicht einmal annähernd der Realität entspricht. Wer einmal in der Rolle des Homo sapiens versucht hat, mit rechtwinklig nach außen zeigenden Füßen vorwärts zu gehen, erkennt schnell die Nachteile dieser Geometrie ...


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Abb. 3: Das Bärtierchen Echiniscus quadrispinosus, eine Entdeckung von Ferdinand Richters.

Wir hatten uns deshalb für dieses Journal vorgenommen, ein auf dem Mülltonnenhäuschen gefundendes, rötliches Echiniscus-Bärtierchen nach Art unserer Vorväter, quasi in old style zu porträtieren. Hierbei wurde schnell klar, dass eine halbwegs erträgliche Anordnung der Beine nur im sogenannten asphyktischen Zustand der Bärtierchen auftritt. Lediglich dann sind die Tiere gestreckt und ihre 8 Beine bleiben wohlsortiert angeordnet - in der Seitenansicht verdeckt dann jeweils ein vorderes Bein ein hinteres vollständig.


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Abb. 4: Mülltonnenhaus-Bärtierchen, im sogenannten asphyktischen Zustand, d.h., bewusstlos fotografiert. Das hier gezeigte Tier ist etwas kleiner als das in Abb. 1, ca. 0,2 mm lang. Man beachte die von Abb. 2 und Abb. 3 abweichende, korrekte Anordnung der Krallen! Zu erkennen sind außerdem der dunkel erscheinende Magen-Darmtrakt, der kugelige Kaumagen, die Stilette und die Mundröhre. Auf eine starke Plättung des Bärtierchens durch Deckglasdruck haben wir wohlweislich verzichtet und es nach der Aufnahme wieder in die Moosprobe zurückgesetzt.

Auf alle Fälle wird auf diese Weise plausibel, dass unsere Vorfahren den asphyktischen Zustand systematisch zum Zeichnen der Bärtierchen eingesetzt haben müssen. Und, zugegeben, ihre Zeichnungen sind schöner als unsere digitalen Aufnahmen, sogar wenn wir die etwas störende Farbe zurücknehmen:


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Abb. 5: Wie Abb. 4, jedoch via Bildverarbeitung der Farbe beraubt. Definitiv ein "Old style"-Foto und deshalb gleichzeitig Reverenz für James Murray und Ferdinand Richters!



Bildquellennachweis

Abb. 2 und Abb. 3 sind leicht überarbeitete Versionen von Originalabbildungen aus dem Standardwerk von Ernst Marcus: Bärtierchen (Tardigrada). Jena 1928.
Diese beruhen vermutlich wiederum auf einer Vorlage von James Murray, der 1914 bei einer Arktisexpedition ums Leben kam (Abb. 2) bzw. einer Zeichnung des deutschen Biologen Ernst Richters (Abb. 3).


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© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach