Das Bärtierchen-Journal
[Titelfragment 1.1] [Titelfragment 1.2] Titelfragment 1.3]
[Titelfragment 2.1] [Titelfragment 2.2] [Titelfragment 2.3]
[Titelfragment 3.1] [Titelfragment 3.2] [Titelfragment 3.3]

Wilde Gestalten mit Löffelgelenken (Genus Ramazzottius)

Dem Bärtierchen  Ramazzottius oberhaeuseri  mit dem Tigermuster sind Sie vielleicht schon mal selbst im Mikroskop begegnet. Es kommt häufig vor und ist gut zu erkennen. Auch hier im Journal war es schon mal farbig auf einer wunderschönen  historischen Abbildung  zu sehen. Im wirklichen Leben, nicht gemalt und nicht gezeichnet, sondern ganz simpel photographiert, sieht es so aus:


[ Tardigrada, Bärtierchen; Ramazzottius oberhaeuseri ]

Bärtierchen Ramazzottius oberhaeuseri (älterer Name: Hypsibius oberhaeuseri), weiblich. Die Eizellen und deren Zellkerne sind andeutungsweise zu erkennen. Typische Körperlänge 300 µm.


Schon in der schwachen Vergößerung erkennen wir die rotbraune Bänderung, den ein wenig eingekrümmtem Rücken und die unsymmetrisch ausgeformten Krallen, mit jeweils einem, sehr lang ausgestreckten Krallen-Hauptast.

Schauen wir noch ein wenig genauer hin (siehe Abbildung unten): Ramazzottius oberhaeuseri hat keine Augen-Pigmentflecken, d.h. keine als solches erkennbaren Augen. Bis heute weiß man übrigens nicht, warum die Bärtierchen ohne Augenpigmentflecken sich genauso sicher bewegen wie ihre Kollegen mit erkennbarem Augenpigment.
Der Mundapparat wirkt insgesamt recht klein, die Mundröhre ist vergleichsweise kurz und extrem schmal. Die vier in der Draufsicht erkennbaren Makroplakoide im annähernd runden Kaumagen erscheinen in etwa quadratisch angeordnet. Die braune Bänderung ("Ringelpulli") ist auch in der Detailaufnahme schön zu sehen.


[ Tardigrada, Bärtierchen; Ramazzottius oberhaeuseri ]

Ramazzottius oberhaeuseri, Vorderleib.
Bildbreite ca. 100 µm.


Ramazzottius oberhaeuseri hat exotische Kollegen, die noch ein wenig wilder wirken und deren Temperament das Photographieren erschwert. Wir haben uns trotzdem bemüht, die quirligen Charactere auf den Foto-Chip zu bannen - eigentlich ein paradoxer Anspruch, weil ja gerade auf dem CCD-Chip alles Bildliche ausgesprochen kurzlebig ist, fast so flüchtig wie ein alt-ehrwürdiger Firmenname in Zeiten des Fusionswahns.


[ Tardigrada, Bärtierchen; Ramazzottius ]

Bärtierchen Ramazzottius sp.
In der Dunkelfeldbeleuchtung sind die Transparenz des Körpers und die braune Bänderung der Körperwandung (der Epidermis) besonders gut zu sehen. Die hier gezeigte, nicht identifizierte Art hat deutlich längere Beine als Ramazzottius oberhaeuseri.


[ Tardigrada, Bärtierchen; Ramazzottius ]

Bärtierchen Ramazzottius sp. Ebenfalls Aufnahme im Dunkelfeld.
Die Rückenmuskulatur liegt im Bereich der optimalen Schärfe, deshalb sind hier die im Bild viel tiefer liegenden Beine und Krallen nur andeutungsweise zu erkennen.


[ Tardigrada, Bärtierchen; Ramazzottius ]

Bärtierchen Ramazzottius sp.
Hellfeldbeleuchtung. Auch hier werden die extremen Proportionen mit den langen Beinen und Krallen deutlich.


Die wilden Gesellen haben sehr große und lange, nur nach einer Richtung hin abklappbare Krallenäste. Die Bewegung dieser lange Krallenäste erinnert uns ein wenig an einen Raucher, welcher mit dem Zeigefinger eine Zigarette abklopft (im Wasser gibt es natürlich nur Nichtraucher).


[ Tardigrada, Bärtierchen; Ramazzottius ]

Große "Ramazzottius"-Krallen an einem Bärtierchenbein, hier an einer abgestreiften Cuticula aufgenommen. Jedes der acht Beine hat eine derartige unsymmetrische Doppelkralle, deren Einzelkrallen sich wiederum zu den vier Krallenenden hin verzweigen .
Beachten Sie das "Löffelgelenk" bei a). An dieser Stelle kann sich der dünne, lange Krallenast nach links biegen.
Interessant: die Kerbe bei b, an allen Krallen - eine Sollbruchstelle?


Vergleichen Sie dieses Gelenk bei a) ganz einfach mit den Fotos eines Plastiklöffels unten. Sie werden wohl ebenfalls zu dem Schluß kommen, daß ein derartiges Gelenk nur in einer Richtung einklappen kann.


[ Tardigrada, Bärtierchen; Ramazzottius ]

Weicher Plastiklöffel, unverformt.


[ Tardigrada, Bärtierchen; Ramazzottius ]

Löffel, ein wenig in Vorzugsrichtung gebogen.


[ Tardigrada, Bärtierchen; Ramazzottius ]

Löffel, stärker in Vorzugsrichtung gebogen.
Ein Überstrecken in die Gegenrichtung ist praktisch unmöglich. Probieren Sie es ganz einfach mal selbst aus, aber natürlich nur mit Ihrem eigenen Löffel!


Wir können nun darüber spekulieren, worin der Sinn des Abklappens der langen Krallenäste besteht. Wenn man die wilden Tierchen so durch das Moos klettern sieht, hat es jedenfalls den Anschein, als seien die langen Haken zum Klettern und Weiterhangeln, insbesondere zum Ertasten und Packen weit entfernter Moosblättchen von erheblichem Vorteil.

Wären die langen Krallenäste jedoch völlig starr, ohne die Löffelgelenke, so würden die Bärtierchen an vielen Stellen ganz einfach nicht mehr durchkommen und überall hängenbleiben, wie ein Mensch mit extrem langen Fingernägeln.

So kompliziert ist es, das Leben und Überleben im Moos-Dschungel.


Lese-Empfehlung:
Hartmut Greven, Lutz Schüttler: How to Crawl and Dehydrate on Moss.
Zoologischer Anzeiger, Band 240 (2001) Seite 341 - 344.


Hauptseite



© Text und Fotos von  Martin Mach