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Bärtierchen-Lektüre, Teil 1: Das Titanenwerk des Ernst Marcus

Im September des Jahres 1927 erschien Teil 22 der Reihe "Biologie der Tiere Deutschlands" mit dem Titel "Tardigrada". Der Benediktinerpater Gilbert Rahm legte in diesem Band auf 56 eng bedruckten und reich illustrierten Seiten eine Gesamtschau des damaligen Tardigradenwissens vor. Wir alle wären in dieser Situation sicherlich stolz gewesen, ein derart ansehnliches Werk abgeschlossen zu haben. Leider zeigte sich, wie auch andernorts im Leben, daß selbst ein fleißiger Meister seines Fachs immer noch überflügelt werden kann.

Schon im folgenden Jahr (1928, siehe unten bei den Literaturangaben) landete nämlich die erste Bärtierchenmonographie von Ernst Marcus auf dem Schreibtisch von Gilbert Rahm - ein Paperback mit 230 kompetent verfaßten Seiten, ein sattes Pfund schwer, immerhin fünfmal gewichtiger als das Büchlein des wackeren Benediktinerpaters. Das muß schon ziemlich hart zu ertragen gewesen sein. Doch damit nicht genug: 1929 folgte bereits das nächste Tardigradenbuch von Dr. Marcus, deutlich prächtiger. Diesmal waren es sage und schreibe 1260 Gramm konzentrierte Bärtierchensubstanz, ein richtiger Wälzer mit satten 608 Seiten!

Wir beginnen unsere populäre Übersicht zur Bärtierchenliteratur mit diesem Buch, weil die einschlägige Forschung wohl weder vorher noch nachher einen vergleichbaren Panthersprung geschafft hat und weil es sich auch sonst um unser Bärtierchen-Lieblingsbuch handelt.
Nota bene: es stammt aus einer Zeit, deren sonstige literarische Produkte bei unseren jüngeren Generationen manchmal nur noch ein Gähnen hervorbringen, ist aber offensichtlich über die zwischenzeitlichen gesellschaftlichen und stilistischen Wandlungen erhaben.


[ Ernst Marcus, Tardigrada, 1929, Titelblatt ]   [ Ernst Marcus, Tardigrada, 1929, Beispielseite ]

Das Mammutwerk im Mammutwerk: 5. Band, IV. Abteilung, Buch 3 - und dann auch noch über 600 Seiten! 

 

Hier stellvertretend die Seite 165 mit den "Geburtskomplikationen " bei Milnesium tardigradum.

Deshalb unser Rat: Wenn Sie dieses Buch irgendwo im Antiquariat finden, fackeln Sie nicht lange und kaufen Sie es sofort. Es ist leider sehr viel seltener zu finden als das bereits erwähnte, ein Jahr jüngere, nur knapp halb so umfangreiche Vorgängerwerk von Ernst Marcus.
Unser Exemplar stammt übrigens von der Pädagogischen Hochschule Erfurt/Mühlhausen. Es enthält einen leeren (!) Ausleihtabellenstempel und wurde laut offiziellem Vermerk vom 21. März 2005, d.h. nach ca. 75 Jahren vorbildlich ungestörter Lagerung, in praktisch unberührtem Erhaltungzustand ausgesondert. Wer jemals den allgegenwärtigen Irrsinn unserer Welt beklagt hat, findet sich hier mal wieder auf's neue bestätigt. Schließlich wissen alle unsere Leserinnen und Leser, daß sich sogar hartgesottene "Wurmverächter" mit Hilfe der Bärtierchen für das Thema Biologie gewinnen lassen (Biologie-Pädagogik der effizientesten Art, arme Küchenzwiebel ... ).

Ansonsten bleibt nur noch der Weg in die Bibliothek, aber warum nicht? Die Mühe lohnt sich!

Vielleicht überzeugen Sie auch folgende Hinweise:
Alleine der Geschichte der Tardigradenforschung widmet Ernst Marcus 20 Textseiten. Und das alles nicht ohne Stolz. In der Einleitung versichert er, daß er die gesamte Fachliteratur so eingehend berücksichtigt hätte, daß dies für den universitären Bedarf ausreiche. Höchstens im Falle einer einschlägigen Dissertation sei noch ein Rückgriff auf die Primärliteratur erforderlich!

Wenn Sie dieses Werk durchgelesen haben, werden Sie fortan auch verstehen, wieviele Abbildungen bei Ernst Marcus, genauer gesagt bei seiner Frau Eveline Marcus, der Illustratorin, bis zum heutigen Tag abgekupfert werden, leider immer mal wieder ohne Quellenangabe.

Bedauerlicheweise stellt man auch in der angelsächsischen Literatur gelegentlich fest, daß Ernst Marcus dort nicht mehr im Original gelesen und verstanden wird.

Weil er jüdischer Abstammung war, verlor Ernst Marcus in der Nazizeit seine Position am zoologischen Institut der Universität Berlin und sah sich gezwungen, nach Brasilien auszuwandern. Dort lehrte er an der Universität von São Paulo. Er starb 1968 in São Paulo. Ein Bild seiner ebenfalls lebenslang biologiebegeisterten Frau Eveline (1901-1990) finden Sie hier. Das Berliner Bärtierchen Hypsibius Evelinae ist übrigens nach ihr benannt.

Egal was Sie suchen: Bilder vom Habitus verschiedener Bärtierchenarten, genaue Zeichnungen des Nervensystems und der Muskulatur, ganzseitige Abbildungen maritimer Tardigraden, penible Verhaltensbeobachtungen - in der Tardigradenbibel von Ernst Marcus werden Sie fündig oder haben zumindest einen guten Startpunkt für weitere Recherchen.

Eine etwas irritierende Merkwürdigkeit hat uns Prof. Dr. Ernst Marcus allerdings in seinem wunderschönen Buch hinterlassen. Seinen Angaben zufolge (S. 294) beträgt die Körperlänge erwachsener Batillipes mirus-Bärtierchen bis zu 720 (!) µm, durchschnittlich immerhin 400 bis 600 µm. Derart große Meeresbärtierchen sind uns jedoch nie unter die Linse gekommen. Weiß vielleicht einer unserer Leser, was aus den nordischen Recken geworden ist?


Literatur

Gilbert Rahm: Tardigrada. Teil 22 in der Reihe "Biologie der Tiere Deutschlands". 56 Seiten. Berlin 1927.

Ernst Marcus: Bärtierchen (Tardigrada). Erschienen in der Reihe: Dahl, F. (Hrsg.): "Die Tierwelt Deutschlands". 230 Seiten. Leipzig 1928.

Ernst Marcus: Tardigrada. 608 Seiten. Leipzig 1929.




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© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach