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Wege zum Moos?

Wir können es drehen und wenden wie wir wollen, es hilft nichts: Manche Spielarten des vermeintlich kultivierten Zeitvertreibs sind nun mal im Schwinden oder sogar schon völlig passé. Zugegeben, nicht jeder Teenie wird den, meist von den Eltern aufgezwungenen, megaernsten Klavierstunden nachtrauern. Und vielleicht haben auch nicht alle unter uns in ihrer Schulzeit das Auswendiglernen von Schillers "Glocke" so richtig genossen?

Endgültig vorbei sind jedenfalls die Zeiten, in denen sich naivere Gemüter noch im Besitz einer universellen Bildung wähnen konnten. Und es reicht womöglich heute ohnehin nicht mehr aus, lediglich Böll, Grass und Thomas Mann im Bücherschrank zu beherbergen, sich ansonsten das Hirn im abendlichen "Tatort-Nebel" des Fernsehens zuzudröhnen.

Man könnte nun denken, daß neben dem Blockflötenspiel vielleicht das geographieverständnisfördernde Briefmarkensammeln der größte Verlierer in diesem fortwährenden kulturellen Klassenkampf sein könnte. Aber nein, wir haben einen anderen Verdacht: Es könnte genausogut das Botanisieren sein, und im Speziellen - auch weil es uns hier speziell betrifft - das Anlegen von Moos-Herbarien und das Bestimmen der Moose.


[ Grimmia Moospolster ]

Eine von vielen potentiell bärtierchenbesiedelten Moosarten. Ausgetrocknetes Moospolster aus einer steinigen Oberfläche, Ansicht von oben.

Hand auf's Herz, wieviele Privatpersonen kennen Sie, die in der Freizeit speziell Moose betrachten, photographieren und bestimmen? Vermutlich nicht allzu viele. Und es gibt dafür triftige Gründe. Von den Fachautoren im Bereich Moosbestimmung wurde immer wieder erklärt, die Moose seien eben zu klein und hätten halt auch keine Blüten, die den Orchideen das Wasser reichen könnten. Wir sehen noch weitere Widrigkeiten: Man braucht für die Moose enorm viel Zeit und noch mehr Geduld. Und der Gewinn, falls man in heutiger Zeit überhaupt noch von einem nichtmerkantilen Gewinn sprechen darf, ist nun mal kein gastronomisches oder sonstwie berauschendes Erlebnis, eher ein vergleichsweises bescheidenes, rein intellektuelles und ästhetisches Vergnügen - vorausgesetzt, man scheitert nicht bereits bein ersten Bestimmungsversuch.

Und wer kennt sich schon aus im Dschungel der vielen Arten, wer beherrscht die bizarren Namen? Hier seien ein paar typische genannt:

- das Streifenfarnähnliche Schiefmundmoos (Plagiochila asplenioides)
- das Kriechende Schuppenzweigmoos (Lepidozia reptans)
- das Breitgedrückte Kratzeisenmoos (Radula complanata)
- das Tamariskenblättrige Sackmoos (Frullania tamarisci)
- das Ausgerandete Geldbeutelmoos (Marsupella emarginata)
- das Zungenförmige Jungermannsmoos (Jungermania lanceolata)
- das Zweizipfelige Kopfsproßmoos (Cephalozia bicuspidata)
- das Aufgeblasene Nacktkelchmoos (Gymnocolea inflata)

Angesichts von ca. 12.000 geschätzen Laubmoosarten im europäischen Raum (Stand 1958, laut Weymar, Artenzahl selbstredend noch ohne Lebermoose) könnten wir uns investigativ und mnemotechnisch sicherlich gut für ein paar Jahrzehnte sehr intensiv beschäftigen, ganz ohne Handy und andere zeitraubende Ablenkungen, versteht sich. Sie, liebe Leserinnen und Leser, werden es vielleicht auch nicht schaffen, Ihr Leben nun flugs mit den genannten 12.000 Arten anzureichern. Möglicherweise werden Sie statt dessen auf eine Art Abkürzung, neudeutsch Cheat, hoffen. Und genau das wollen wir hier versuchen.

Im Querschnitt durch ein besonders schön augebildetes, fast ideal halbkugeliges Mooskissen (unten) erkennen wir den typischen Wasserverteidiger, der alles daran setzt, der feindlichen Sonne durch halbkugelige Geometrie eine möglichst geringe Angriffsfläche zu bieten. Auch werden die feinen, seidigen "Glashaare" an der Oberfläche in der Fachliteratur als vorgelagerter Verdunstungsschutz interpretiert. Die Glashaare schaffen eine Art Dschungel, der die Restluftfeuchte im Glashaarbereich bewahrt und vor trocknendem Wind schützt. Gleichzeitig bietet das Moos von oben eindringendem Wasser eine komplexe, schwammartige Struktur an, die große Mengen an Feuchtigkeit aufsaugen und binden kann. Wer als Pionier auf Felsen anlandet, setzt nicht auf eine saftige Bodenkrume (die schlichtweg noch nicht da ist), wird deshalb auf tiefere Wurzeln verzichten und sich auf Wasserversorgung von oben spezialisieren.



[ Grimmia Moospolster ]

Kissen aus einer bei Bärtierchen sehr beliebten Moosart, Grimmia pulvinata, im Querschnitt. Durchmesser 2,5 cm.

Wenn man der Evolutionstheorie Glauben schenkt - und das sollten wir im Zweifel tun, kamen ja alle Bärtierchen ursprünglich aus dem Meer, besiedelten als frühe Pioniere das Land. Die Partnerschaft mit einem Wasserverteidiger kann unter diesen Umständen natürlich einen entscheidenden Vorteil mit sich bringen: Man hat sozusagen immer noch sein Restchen Meer dabei.

Außerdem bietet das Moos jede Menge kulinarischer Köstlichkeiten, übrigens für uns Menschen mit bloßem Auge absolut unsichtbare Köstlichkeiten. Mehr darüber im nächsten Journal!



Literatur

Weymar, Herbert: Buch der Moose. S. 12. Radebeul 1958.


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© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach