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Lupen für Fortgeschrittene (XXIII)
Gute Zeiten - Schlechte Zeiten?

Wir nähern uns unweigerlich dem Ende unserer, mittlerweile geradezu erschöpfend langen Serie "Lupen für Fortgeschrittene". Die rote Titelzeile soll daran erinnern, dass es ein Naturfreund (genderkorrekt: eine mit der Natur befreundete Person?) nicht immer so einfach hatte wie heute. In der britischen Naturkunde-Literatur der Jahrhundertwende und besonders der deutschen der 1920er Jahre finden wir konsequenterweise reichlich Annoncen, die einen äußerst bescheidenen, aus der Not geborenen Gerätetypus bewerben: die kleine Standlupe.


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Abb. 1: Eine naheliegende Idee - die Zweitverwendung einer Einschlaglupe als Standlupe. Das heute vergessene Einschlaglupen-Griffschalenloch hatte übrigens Mehrfachfunktion: schneller, provisorischer Einblick im eingeklappten Zustand, bildqualitätsverbessernde Blende und noch dazu potentielle Stativstangen-Aufnahme! Dieser gemischten Rolle ist wohl auch die mittige Anordnung des Lochs zu verdanken. Der Vorschlag eines besonders eifrigen Autors, doch bitte durch asymmetrische (weiter außen liegende) Anbringung des Lochs den Hebelarm der Stativlupe zu vergrößern, konnte sich nicht durchsetzen. Nebenbei bemerkt: eine typische Altmänner-Diskussion!
Abbildung aus Henry Scherrens britischem Bestseller "Through a Pocket Lens" (1897) S. 14.

Unter wirtschaftlich günstigen Randbedingungen ("Gute Zeiten") konnte auch die kleine Standlupe in etwas üppigerem, manchmal sogar schon fast luxuriös anmutendem Gewand auftreten (Abb. 2):


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Abb. 2: Sehr alte, kleine Standlupe, wohl aus britischer Produktion. Ein aufwändig gearbeitetes, sehr solides Messing-Stativ beherbergt hier eine denkbar simple, einlinsige Optik. Einziges abbildendes Element ist eine einfache, symmetrische Bikonvexlinse mit einem Brechwert von exakt 20 Dioptrien (was einer 5-fachen Vergrößerung entspricht). Und nein, zur Detektion von Bärtierchen-Tönnchen in Moos-Trockenproben reicht diese Vergrößerung leider nicht aus.
Stativhöhe 6 cm. Freier Linsendurchmesser 28 mm, Gewicht 113,8 g.

Die kleine Standlupe führte fortan ein zunehmend bescheidenes Nischendasein, wurde in den Verkaufskatalogen meist nur verschämt, neben sehr viel teureren "richtigen" Präpariermikroskopen (mit Fokusrad, seitlichen Handauflagen etc.) angeboten. Es ist auch keineswegs falsch, wenn man, mit Blick auf Abb. 3, an elend schuftende Akkord-Montage-Arbeiterinnen der 1960er-Jahre oder auch an besonders sparsame Briefmarkensammler im Rentneralter denkt (demnach ein klares Indiz für eher bescheidene Randbedingungen: "Schlechte Zeiten").


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Abb. 3: Präparierstativ, mutmaßlich aus den 1950er oder 1960 Jahren. 10fach Optik. Gleichzeitig angebotene, "richtige" Präpariermikroskope zielten auf professionelle oder finanziell besser gestellte Kunden. Dies gilt in verstärktem Maß für die, zeitweise unglaublich teuren, heute jedoch wohlfeil allgegenwärtigen Stereomikroskope (Präpariermikroskope mit stereoskopischem Bildeindruck bei relativ niedriger Vergrößerung).

Das in Abb. 3 gezeigte Modell ist mit einer aplanatischen 10fach Optik ausgestattet, die aus zwei auf Abstand gesetzten, dünnen plan-konvexen Linsen besteht. Die Bildqualität erscheint vergleichsweise gut, ist letztendlich aber auch einer starken Abblendung und einem dementsprechend kleinen Gesichtsfeld geschuldet. Standlupen dieses Typs konnten mit unterschiedlichen, jedoch dann am Instrument fix verbauten Lupen ausgerüstet werden. Sobald der Nutzer die hier gezeigte Modellvariante mit der 10fach Lupe auf die Opalglasplatte fokussiert, kann allerdings die frei nach oben ragende Stativstange dem Auge ziemlich nahe kommen ...

Das schwere und stabil stehende, jedoch grob geformte Spritzguss-Stativ lässt beim Nutzer kein unmoralisches Luxusgefühl aufkommen. Es ist ca. 10 cm hoch. Die Stativtisch-Außenmaße belaufen sich auf 8,8 cm x 11,7 cm. Eine als Arbeitsfläche dienende Opalglasplatte ist bei dem hier gezeigten Exemplar verschraubt und verklebt, zudem durch den Spritzgusstisch rückseitig vollständig abgedeckt. Sie erlaubt deshalb kein Durchlicht. Eine Rändelschraube an der Stativstange dient zur Fixierung des Grobabstands, während ein zusätzlich am Lupenkopf angebrachter, ziemlich krude gefräster Schrägschlitz eine zusätzliche Feinfokussierungsschraube führt.

Theoretisch könnte man mit diesem Modell, bei immerhin 10facher Vergrößerung Bärtierchen in einer Petrischale sehen. Das Gesichtsfeld ist aber leider ziemlich klein. Heute lebende Mikroskop-Amateure werden deshalb jedes, auch noch so billige Stereo-Präpariermikroskop der tapferen Kleinlupe vorziehen. Insofern: Tempi passati. Andererseits ist eine derartige, kleine Lupe zur Begutachtung von Briefmarken oder Münzen durchaus geeignet, beansprucht auch nicht allzu viel Stellplatz.
Gewicht: eindrucksvolle 374 g.


Bezeichnerweise scheint die kleine Stativlupe ihren letzten Entwicklungsschritt (vor dem fast vollständigen Verschwinden) im Überraschungsei absolviert zu haben. Man sieht an ihr, dass es unsere Kinder wirklich gut haben müssen, wenn ihnen nun eine Standlupe in Form eines Kinderparty-Goodies förmlich vor die Füße geworfen wird:


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Abb. 4: Aus sechs Einzelteilen montierte Überraschungsei-Lupe (FerreroTM, K04 n°18, 2004). Zwei flache, bikonvexe PMMA-Linsen, Gesamtvergrößerung maximal ca. 3,5-fach. Die untere Linse ist auf einer Schiebehülse gelagert, wodurch unterschiedliche Arbeitsabstände und Vergrößerungen erzielt werden können. Nebenbei erlaubt diese Konstruktion experimentierfreudigen Nutzern, den Einfluß des Linsenabstands auf die Vergrößerung in wirklich anschaulicher Manier zu studieren.
Höhe 6,2 cm. Gewicht 6,9 g.

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Abb. 5: Beipackzettel zur Ferrero-Lupe, Seite 1

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Abb. 6: Beipackzettel zur Ferrero-Lupe, Seite 2

Und wer nun denkt: "Jetzt hört aber mal auf, das ist doch wirklich nur ein Kleinkind-Spielzeug!", der sei mit Hilfe eines Blicks durch diese Lupe eines Besseren belehrt - sie funktioniert nämlich auch nicht sehr viel schlechter als die beiden Modelle in Abb. 2 und 3:


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Abb. 7: Blick durch die Ferrero-Lupe auf ein Lineal (beide Linsen übereinander fluchtend angeordnet). Die Bildqualität ist durchaus akzeptabel, solange man nicht bei starkem Streulicht arbeitet.
"Gute Zeiten" - für kleine und große Kinder!

Aber klar, für Bärtierchen ist der Abbildungsmaßstab der Ferrero-Lupe definitiv zu klein. Damit nun aber auch die (vermeintlich) Erwachseneren zu ihrem Recht kommen, sei wieder einmal demonstriert, wie man mit Hilfe eines feuerzeuggroßen SCiOTM NIR-Taschenspektrometers nachweisen kann, dass die Linsen der Ferrero-Lupe aus Acrylglas (PMMA) und nicht aus dem, für optische Linsen problematischeren, Polystyrol bestehen:


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Abb. 8: NIR-Analyse der Linsen der Ferrero-Lupe (zur Methodenbeschreibung siehe Journal vom Februar 2023)
Blaue Kurve: PMMA (Acrylglas)-Referenz
Grauviolette Kurve: Polystyrol Referenz
Grüne Kurve: Linsenmaterial der Ferrero-Lupe

Die hier dokumentierte NIR-Analyse des Ferrero-Linsenmaterials nimmt weniger als 30 Sekunden in Anspruch!



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© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach