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Thai-Tardies (III) - Batillipes-Taxonomie

In Internetdiskussionssträngen (es hat eine Weile gedauert, bis uns das deutsche Wort für 'Thread' überhaupt noch einfiel) taucht immer wieder die Frage nach einer Bestimmungsliteratur für Bärtierchen auf. Die Fachleute scheinen sich aus diesen Diskussionen grundsätzlich herauszuhalten. Deshalb enden die, meist ein wenig ratlos wirkenden Dialoge typischerweise mit einem lapidaren Hinweis auf den deutschsprachigen 'Greven' (1980) oder den besser beworbenen, jedoch nicht allzu umfangreichen, englischsprachigen 'Kinchin' (1994). In diesen beiden
- übrigens durchaus lesenswerten - Monographien wird jedoch eine genaue Artbestimmung nicht einmal ansatzweise versucht.

Interessanterweise ist das einzige international ausgerichtete, umfassende Tardigraden-Artbestimmungswerk von Ramazzotti und Maucci (letzte Auflage 1983, über 1.000 Seiten) weitgehend unbekannt. Vielleicht deshalb, weil es in italienischer Sprache verfaßt ist, was wiederum die teutonische Bestimmungs-begeisterung ein wenig abflauen läßt?

Unter diesen Umständen verwundert es nicht, daß vielen Bärtierchen-Mikrofotos im Internet falsche Speziesnamen zugeordnet sind, vermutlich weil die jeweiligen Bildautoren vielleicht nur eine oder zwei Arten abgebildet gesehen haben und dann glauben, alles was in toto halbwegs ähnlich aussehe, müsse auch die gleiche Spezies sein. Nicht umsonst warnen Profi-Tardiologen vor Bestimmungen, die etwa aufgrund eines einzigen Fotos vorgenommen werden oder die durch einfachen bildlichen Vergleich mit einer Lehrbuchzeichnung zustande gekommen sind.

Welche Literatur brauchen wir nun tatsächlich, wenn wir einen Meeres-Tardigraden wie unser Thai-Bärtierchen vom  Juni-Journal  einigermaßen sicher bestimmen wollen? Ganz einfach: am besten alles.


[ Literatur über Meerestardigrade ]


Die Literatur zu den Meerestardigraden (hier im Bild nur eine kleine Auswahl) ist umfangreich und teils nur schwer zu bekommen. Ein umfassendes Handbuch scheint es leider nicht zu geben. Auch läßt uns bei dieser Aufgabe die ältere Bärtierchen-Literatur vollends im Stich: Im Jahr 1928 benannte der Jesuitenpater und Bärtierchenforscher Gilbert Rahm gerade mal 6 (in Worten: sechs) sichere Arten von Meerestardigraden.


Die Genus-Zuordnung unserer Thai-Tardigraden zum Meerestardigraden-Genus Batillipes, alleine aufgrund der löffelartigen Haftscheibenzehen, ist einfach und kann in einem der gängigen 'groben' Bestimmungsschlüssel, z.B. bei Renaud-Mornant/Pollock (1971) gut nachvollzogen werden.

Sobald es jedoch um die genaue Artzuordnung innerhalb des Genus Batillipes geht, wird die Literatur spärlich - und die Aufabe dementsprechend schwierig. Erschwerend kommt hinzu, daß die Batillipes-Arten einander ähnlich sind und manche Charakteristika auch innerhalb der jeweiligen Art so stark variieren können, daß die Grenzen zu den benachbarten Arten verschwimmen.

Prof. Ernst Marcus, der intellektuelle Gigant unter den Bärtierchenforschern der Vorkriegszeit, dessen herausragende Illustrationen auch heute noch gerne abgepaust werden, verfaßte 1927 einen spektakulären Artikel über die Meerestardigraden Echiniscoides sigismundi und Batillipes mirus.
Über Batillipes mirus haben wir hier schon viel geschrieben (vgl. die Journale über unsere Expedition nach Kiel), sind allerdings bislang daran gescheitert, die von Marcus beschriebenen Batillipes mirus-Riesen (700 Mikrometer lang!) wiederzufinden.
Jedenfalls kannte sogar Ernst Marcus 1927 nur eine einzige Batillipes-Art, die augenscheinlich mit unseren Thai-Tardigraden nicht identisch ist.

Bei Ramazzotti (1983) sind immerhin schon 15 Batillipes-Arten gelistet, bei d'Addabbo (2000) sogar 24. Wie man sieht, ist es vielen Batillipes-Arten, obwohl weltweit in multimilliardenfacher Individuenzahl verbreitet, hervorragend gelungen, sich vor den Menschen zu verstecken.

Wie kommen wir nun mit der Bestimmung weiter, vom Genus zur Art? Helfen uns vielleicht Eigenarten am Mundapparat unseres Thai-Batillipes?


[ Literatur über Meerestardigrade ]


Meerestardigrade aus Thailand. Vorderkörper und Kopfbereich. Bildbreite ca. 100 µm. Standbild aus einem Video. Kreisrunde Augenflecke und Stilettfedern sind gut zu erkennen.

Leider nein, ein kurzer Blick in den 'Ramazzotti' zeigt uns, daß der Mundapparat bei allen Batillipesarten anscheinend ähnlich ausgebildet ist. Es gibt auch keine Schlundkopfeinlagerungen, deren Form und Anzahl bei den Eutardigraden-Bärtierchen als Artmerkmal dienen. Der komplizierte'Antennwald' am Kopf von Batillipes hilft in unserem Fall als Artbestimmungskriterium ebenfalls nicht weiter.
Statt dessen muß der Taxonomenblick bei Batillipes immer als erstes auf das hintere Ende gerichtet sein. Schauen wir deshalb das Hinterende der, schon im vorvorletzten Journal gezeigten, Cuticula aus Thailand genauer an:


[ Thai-Cuticula, Dunkelfeld ]


Cuticula eines Meerestardigraden aus Thailand. Konisch-zapfenförmiger Schwanzfortsatz. Dunkelfeldaufnahme.


Während ein fehlender Schwanzfortsatz in der taxonomischen Bewertung nicht viel gilt (so etwas scheint bei manchen Arten als Variation gelegentlich vorzukommen) wird dem Vorhandensein und der genauen Form des Schwanzfortsatzes große Bedeutung beigemessen. Und damit sind wir auch schon bei Batillipes similis Schulz (1955) angelangt. Unter den literaturbekannten Batillipes Arten weist nur diese einen gerundeten, leicht konischen Schwanzzapfen auf.


Wenn wir noch mehr Sicherheit gewinnen wollen, bleibt nur der Weg zur Profiliteratur: zu den ca. 10 Bänden von den einzelnen Tardigradensymposien, einige davon sehr teuer, manches darin sehr speziell, aber auf alle Fälle mit maximal verdichtetem Tardigradenstoff.
Der Weisheit letzter Schluß liegt dann erfahrungsgemäß in den, meist in den Symposienbänden versteckten, sporadischen 'Genus-Reviews', in welchen ein Wissenschaftler typischerweise ein einziges Genus herauspickt, es nach allen Regeln der Kunst auswertet und den aktuellen Wissensstand beschreibt. Batillipes erfuhr diese Ehre im Jahr 2000 durch den unten zitierten Artikel von d'Addabbo et al.
Dort finden wir eine weitere (seltene) Eigenschaft von Batillipes similis : das vierte Beinpaar mit den zwei unterschiedlich langen, kürzesten Krallen. Zum Vergleich zeigen wir unten zuerst ein Batillipes-Beinpaar mit den normalen, jeweils gleichlangen kürzesten Krallen am vierten Beinpaar, damit Sie sehen was gemeint ist.


[ 'Normales' viertes Beinpaar bei Batillipes ]


'Normale' Krallenlängen am vierten Beinpaar eines Batillipes-Bärtierchens aus Frankreich (laut Literatur nicht bei Batillipes similis !)


[ Thai-Cuticula mit andersartigem vierten Beinpaar ]


Thai-Tardigrade (Cuticula): Unterschiedliche Krallenlängen am kürzesten Krallenpaar des vierten Beinpaars - zumindest unserer Meinung nach. Falls Sie anderer Ansicht sein sollten: bitteschön, vielleicht ist es ja auch gar nicht sooooooooooo wahnsinnig wichtig.

Und dann könnte man natürlich auch die seitlichen Lappen am Körper der Thai-Tardigraden genauer untersuchen sowie die Textur der Cuticula und die langen Dornen am letzten Beinpaar; alle diese Merkmale sind unserer Meinung nach sehr ähnlich wie in den Literaturbeschreibungen des "Solltiers" Batillipes similis.


[ Thai-Cuticula: Skulpturierung; seitliche Fortsätze ]


Skulpturierung der Thai-Cuticula mit den, in der Literatur als für Batillipes similis  typisch erachteten, konischen Fortsätzen zwischen drittem und viertem Beinpaar.


[ Thai-Cuticula: lange Dornen auf dem vierten Beinpaar ]


Die langen Dornen auf den Beinoberseiten des vierten Beinpaars an unterer Thai-Cuticula entsprechen Schulzes Erstbeschreibung von Batillipes similis  aus dem Jahr 1955. Ölimmersion, außerdem extrem schräg einfallende Beleuchtung zur Kontraststeigerung.


Damit wollen wir es hier genug sein lassen, sonst riskieren wir womöglich noch, unseren verantwortunglos-oberflächlich-luftigen Amateursstatus zu verlieren!



Literatur

Maria Gallo d'Addabbo, Rosanna d'Addabbo, Susanna de Zio Grimaldi: Redescription of Batillipes dicrocercus Pollock, 1970 and Revision of the Genus Batillipes (Tardigrada, Heterotardigrada). Zoologischer Anzeiger, 239 (2000) 329-339.

Hartmut Greven: Die Bärtierchen. Neue Brehm-Bücherei Bd. 537, Lutherstadt Wittenberg 1980 [letzte redaktionell bearbeitete Auflage].

Ian M. Kinchin: The Biology of Tardigrades. London 1994.

Ernst Marcus: Zur Anatomie und Ökologie mariner Tardigraden. Zoologische Jahrbücher / Abteilung für Systematik, Ökologie und Geographie der Tiere, 53 (1927) 487-558.

Gilbert Rahm: Tardigrada. In: G. Grimpe und E. Wagler, Die Tierwelt der Nord- und Ostsee,
Teil XI.b. 25 Seiten. Leipzig 1928.

Guiseppe Ramazzotti und Walter Maucci: Il Phylum Tardigrada. Memorie dell'Istituto Italiano di Idrobiologia, 41 (1983) S. 1-1012.

Jeanne Renaud-Mornant, Leland W. Pollock: A Review of the Systematics and Ecology of Marine Tardigrada. S. 109-117. In: Neil C. Hulings (Ed.), Proceedings of the First International Conference on Meiofauna, 1-11 July 1969, Washington 1971.

Erich Schulz: Studien an marinen Tardigraden. Kieler Meeresforschungen, XI (1955) 74-79.


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© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach