[Titelfragment 1.1] [Titelfragment 1.2] Titelfragment 1.3]
[Titelfragment 2.1] [Titelfragment 2.2] [Titelfragment 2.3]
[Titelfragment 3.1] [Titelfragment 3.2] [Titelfragment 3.3]


Lupen für Fortgeschrittene (X)
Hier: Professionelle Brennweitenmessung für Amateure - die Praxis!

Im Juli-Journal (2022) hatten wir die Theorie einer Methode zur Brennweitenmessung von einfachen Linsen, Mikroskopobjektiven und starken Lupen abgeleitet, mit folgendem Ergebnis:


[  ]

Abb. 1: Formel zur Berechnung der Brennweite auf der Basis der Zwischenbildgrößen bei zwei unterschiedlichen Mikroskop-Tubusauszugslängen.
f: gesuchte Brennweite
t1 und t2: Zwei unterschiedliche Tubusauszugslängen
m1 und m2: Vergrößerungswirkung bei den Tubusauszugslängen t1 und t2
Quelle [Johnson 1960].

Aber klar, was hilft die schönste Formel, wenn sie die Realität nicht abbildet? Wir haben sie deshalb mit der unten ausführlich geschilderten Vorgehensweise auf Herz und Nieren überprüft, und hierbei unter anderem folgende (euphorisch stimmende :-) Ergebnisse erhalten:

[  ]

Tab. 1: Praxiskontrolle der in Abb. 1 gezeigten Formel - mit Hilfe eigener Brennweitenmessungen an Nikon "CF M Plan Achromat"-Objektiven (professionelle "MPlan" Auflicht-Objektive für eine Tubuslänge von 210 mm, beispielsweise am Nikon "Optiphot")
Grau: Eigene Einzelmessungen
Blau: Eigene Durchschnittswerte, aus den Einzelmessungen errechnet
Grün: Sollwerte der Objektivbrennweiten, laut Nikon Datenblatt von 1993 (siehe Lit.)

Aus den Messwerten in Tab. 1 ist ersichtlich, dass die Durchschnittswerte unserer eigenen Messungen mit den Sollwerten von Nikon geradezu verdächtig gut übereinstimmen, mit maximalen Abweichungen von weit unter 1%.

Bei [Liao 2012] findet sich alternativ die Beschreibung einer deutlich aufwändigeren Methode an der optischen Bank, mit Hilfe eines Interferometers. Bemerkenswerterweise wird mit der dort geschilderten Vorgehensweise eine vom Nikon Datenblatt signifikant abweichende Brennweite eines Nikon MPlan 5x-Objektivs gefunden, und zwar ein Wert von 37,43 mm. Man mag dies auf den ersten Blick als Mikroskopiegrantler-Erbsenzählerei abtun, möge jedoch bedenken, dass wir es hier mit dem Datenblatt eines Optik-Weltkonzerns zu einer revolutionären Produktlinie (voll auskorrigierte "colour-free" Objektive!) zu tun haben.

Anmerkung: CF-Objekive kommen ohne die ansonsten übliche, nachgeschaltete Fehler-Korrektur durch ein Mikroskop-Okular aus. Sie sind deshalb noch heute sehr beliebt, nicht zuletzt bei Makrofotografen, die mit einem Balgengerät arbeiten und kein Mikroskop-Okular zwischenschalten möchten. Die CF-Objektive dürften zum Zeitpunkt ihrer Markteinführung deshalb einige durchaus sattelfeste, westliche Konkurrenten ziemlich nervös gemacht haben. In Anbetracht dieser Randbedingungen sollten wir vorsichtshalber annehmen, dass die Nikon-Spezifikationen bis in die Nachkommastellen hinein nummerisch bluternst, geradezu erbsenzählerisch-mikroskopikergreissicher ernst genommen werden sollten.


Und hier die Anleitung zum Selber-Nachvollziehen - traut Euch einfach!


[  ]

Abb. 2: Die zur DIY-Brennweitenmessung empfohlene Ausrüstung. Bei uns kam ein ca. 80 Jahre altes Spitzengerät aus Frankreich zum Einsatz, und zwar ein "Nachet DXS Grand Microscope" mit ausziehbarem, skaliertem Tubus und originalem Präparatführer. Man kann selbstverständlich auf das "Grand" verzichten, sollte aber bei der Wahl des Mikroskopes auf eine solide Mechanik und feinmechanische einwandfreie Konstruktion des Tubusauszugs achten. Das Zwischenbild könnte man - theoretisch - statt des hier gezeigen Mikrometerschraubenokulars auch mit einem einfachen klassischen Okularmikrometer, d.h. einem Okular mit integrierter Skala ohne Mikrometerschraube ausmessen. In diesem Fall muss unbedingt die Okular-Feldlinse entfernt werden. Die Messgenauigkeit fällt bei Verwendung des einfachen Okularmikrometers allerdings sehr viel geringer aus, liegt schätzungsweise um Faktor 10 niedriger [Göke 1988].

Erklärung der roten Ziffern (links in Abb. 2):
(1) Der unbedingt erforderliche ausziehbare Tubus mit Millimeter-Skalierung
(2) Das Zeiss Mikrometerokular
(3) Das Messobjekt, hier eine am Objektivrevolver angeflanschte Einschlaglupe



[  ]

Abb. 3: Ein wichtiger Kniff besteht in der sauberen, möglichst lichtdichten und lotrechten Adaption des jeweiligen Messobjektes an den Mikroskoptubus. Die Montage ist im Falle von RMS-Mikroskopobjektiven natürlich kein Problem, kann jedoch bei anderen, größeren und höheren Objekten Kopfzerbrechen bereiten. Die meisten für den Mikroskopiker interessanten Objekte lassen sich jedoch mit Hilfe des hier gezeigten Adapters direkt messen. Wir setzen zwei Standard Mikroskop(RMS)-Gewinde-Distanzadapter samt improvisierter Blende ein, verwenden dann zur temporären Befestigung des jeweiligen Prüfobjektes - man erschrecke nicht - simples Klebeband. Das Foto zeigt die Unterseite des Adapters mit der "Blende", einem einfachen Dichtring aus dem Sanitärbereich. Hier wird das Prüfobjekt aufgelegt und sauber befestigt, dann wie ein ganz normales Mikroskopobjektiv kopfüber am Mikroskoptubus eingeschraubt (mit dem im Bild unten liegenden Gewinde am schwarzen Zwischenring).

Als Messhilfe auf dem Objekttisch kann ein beliebiges Objektmikrometer eingesetzt werden. Im Falle des Nachet-Mikroskopes erwies sich ein uraltes, vertikal eingeklebtes Leitz 2 mm Objektmikrometer als die beste Lösung. Man könnte jedoch wohl genauso gut ein aktuelles, gewohnt unmoralisch preiswertes 1/100 mm Objektmikrometer aus Fernost einsetzen.
Die eigentliche Messung sei am Beispiel eines wirklich optimal geeigneten Zeiss Okularmikrometers mit Mikrometerschraube exemplarisch beschrieben:

(1) Man stellt das Bild des Objektmikrometers scharf

(2) Der Tubusauszug des Mikroskopes wird präzise auf den minimal an der Tubusskala möglichen Wert eingestellt, z.B. auf "150"

(3) Man richtet das Objektbild und das Zwischenbild sauber parallel gegeneinander aus, so dass die Vergrößerungswirkung der Optik exakt ausgemessen werden kann (Abb. 4 und Abb. 5)

(4) Man ermittelt auf diese Weise die Vergrößerung m1des Zwischenbildes. In der auf Abb. 4 und Abb. 5 dokumentierten Situation würden wir für einen Objektmikrometerabschnitt von 1,5 mm eine Zwischenbildgröße von etwa 6,608 ablesen, die wiederum einer Vergrößerung von 4,4053 entspräche. Dies wäre der Wert m1 für die Formel in Abb. 1.

(5) Analog ermitteln wir den Vergrößerungswert m2 bei maximal möglichem Tusbusauszug, z.B. 200 mm.

(6) Abschließend setzen wir in die Formel der Abb. 1 die Differenz der Tubusauszugslängen (hier 200 mm minus 150 mm, ergibt 50 mm) sowie die beiden Vergrößerungswerte m2 und m1 ein und können daraus die Brennweite errechnen, zweckmäßigerweise mit Hilfe eines Tabellenkalkulationsprogrammes wie beispielsweise MicroscoftTM ExcelTM oder OpenOfficeTM CalcTM.


[  ]

Abb. 4: Der Blick in das Mikrometerokular zeigt die Objektmikrometerskala (vertikale 2 mm Skala mit feiner Teilung) neben der Zwischenbildskala (die sehr viel gröber unterteilte, vertikale Skala, weiter rechts). Wir erkennen, dass der Doppelstrichcursor der Zwischenbildskala auf einen Wert von 1,5 mm an der Objektmikrometerskala zeigt und gleichzeitig eine Zwischenbildgröße von Sechskomma-Irgendwas signalisiert, auf alle Fälle etwas mehr als 6,5 mm - Genaueres wissen wir noch nicht. Der exakte Wert muss nämlich nachträglich außen an der Mikrometerschraube des Mikrometerokulars abgelesen werden (siehe folgende Abb. 5).

[  ]

Abb. 5: Die Zwischenbild-Nachkommastellen (die Hundertstel und Tausendstel (!) Millimeter) zwischen der "6" und der "7" im vorigen Bild) müssen außen an der Mikrometerschraube abgelesen bzw. - bei den Tausendsteln - visuell interpoliert werden. Aus der Kombination des groben Wertes ("irgendwas auf halber Strecke zwischen 6 und 7") und des Mikrometerwertes (ziemlich genau 608) bauen wir eine Zwischenbildgröße von 6,608 mm.
Ein funktionstüchtiges Mikrometerokular wie das hier gezeigte kann, wie wir auf der Basis vieler Messungen bestätigen können, als probates Argument dienen, dass die mikroskopische Feinmechanik des vergangenen Jahrhunderts so manche optische Bank immer noch das Fürchten lehren kann.

Und völlig klar, man muss nun etwas üben um eine Messwertpräzision wie in Tab. 1 zu erzielen. Vermeintlich kleine methodische Fehler können zu erheblichen Ergebnisabweichungen führen. Lediglich exemplarisch sei als Fehlerquelle angeführt, wenn der Objektträger zwischen zwei Messungen plötzlich in eine tiefere Position am Objekttisch einruckelt, wenn die beiden zu vergleichenden Skalen nicht wirklich exakt parallel zueinander bzw. nicht exakt auf die Nullwerte ausgerichtet sind, wenn der Tubus vor dem Ablesen einsinkt, wenn die Tubus-Skalierung nichts taugt oder nicht gut abgelesen werden kann etc.

Man könnte und sollte in der beschriebenen Vorgehensweise vorsichtshalber redundant weitere Abschnitte des Objektmikrometers ausmessen, beispielsweise die Vergrößerung einer Objektlänge von 1,0 mm oder 1,8 mm bestimmen, ebenfalls wieder bei unterschiedlichen Tubuslängen. Und selbstverständlich sollten sich bei derart bewusst unterschiedlich gehaltenenen Randbedingungen immer wieder sehr, sehr ähnliche Brennweitenmessergebnisse finden lassen. Sobald dann mindestens zwei Brennweitenmesswerte auf weniger als 1% genau übereinstimmen, kann der Experimentator einigermaßen sicher sein, dass alles seine Ordnung hat. Und völlig klar, ein gewissenhafter Experimentator kalibriert seine komplette Handlungskette an Hand von Objekten mit bekannter Brennweiten-Spezifikation!

Ein klein wenig schmunzelnd, quasi sozialneidisch-schadenfroh sei noch angemerkt, dass so manche Luxus-Forscher mit ihren 50.000 € Forschungsmikroskopen hier zwangsläufig außen vor bleiben - ganz einfach, weil sie eben kein uraltes Hufeisenmikroskop mit ausziehbarem Mono(!)-Tubus besitzen oder weil sie ein früher vorhandenes, uraltes Zeiss-Mikrometerokular bereits vor Jahrzehnten entsorgt haben könnten!

In den nächsten Monaten werden wir die durchaus informativen, gelegentlich aber auch unterhaltsamen bis frustrierenden Messwerte an (teils) bärtierchentauglichen Lupen präsentieren.



Literatur

Gerhard Göke: Moderne Methoden der Lichtmikroskopie. S. 280. Stuttgart 1988.

B.K. Johnson: Optics and optical Instruments. S. 31-32. - 2. Auflage, London 1960.

Lin-Yao Liao, Bráulio Fonseca Carneiro de Albuquerque, Robert E. Parks, and José Sasián: Precision focal-length measurement using imaging conjugates, Optical Engineering 51(11), 113604 (2 November 2012). https://doi.org/10.1117/1.OE.51.11.113604

Nikon Datenblatt [1993]: Nikon CF Objectives 210 mm Tube Length for industrial Applications. [Anmerkung: Diese Produktbeschreibung ist derzeit auch online, und zwar auf der Website des bekannten Mikrofotografen Charles Krebs zu finden].



Hauptseite



© Text, Fotos und Filme von  Martin Mach