Das Bärtierchen-Journal
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Bärtierchen auf Reisen

Die etwas älteren Leserinnen und Leser werden sich vielleicht noch erinnern, wie vor knapp 40 Jahren die ersten französischen Weichkäsesorten in den deutschen Verkaufsregalen auftauchten.
Mit Wucht und unerhört cremiger Konsistenz fegte der "echt französische Geramont" durch die Tengelmann-Filialen und ließ so manchen heimischen Schmelzkäse ranzig aussehen.
Das war natürlich nur der Anfang einer Revolution im Regal.
Heute staunt niemand mehr über die gigantische Artenfülle in unseren Käsebiotopen.

Auch die weltweite Artenverteilung der Bärtierchen ist, langfristig gesehen, wohl keineswegs konstant. Schon ein lokal begrenztes, präzises Momentbild dieser Artenverteilung erfordert extremen Arbeitseinsatz, wie wir an Hieronim Dastychs Dissertation "The Tardigrada of Poland" ermessen können: Dastychs Arbeit fußt auf 5261(!) Proben mit 81532(!) einzeln erfaßten Bärtierchen-Individuen.
Es verwundert deshalb nicht, daß niemand in der Lage ist, die Artenverteilung der Bärtierchen weltweit zu skizzieren, geschweige denn deren zeitliche Veränderung darzustellen.

Wir müssen davon ausgehen, daß eine Welt-Gesamtpopulation von vielen Billiarden, vielleicht auch Trilliarden Bärtierchen existiert. Ein kleiner Bruchteil dieser Bärtierchen geht, wir werden noch diskutieren wie, auf Reisen. Es mag sein, daß viele der Reisenden nicht überleben. Andererseits berichtet die Fachliteratur, daß sich die Bärtierchen zumindest im Nahbereich problemlos verbreiten können, z.B. bei der Erstbesiedelung von Steinen:

"Ein frei stehendes, im Jahre 1904 errichtetes Denkmal wurde bald von Moospolstern besiedelt. Bereits nach 2 Jahren lebten in diesen 2 Tardigradenarten. 1927 aber, also nach 23 Jahren wurden 5 Species darin nachgewiesen, die nur auf dem Luftwege dahin transportiert worden sein können."

A. Kaestner (Hrsg.): Lehrbuch der speziellen Zoologie.
Bd. I, 1.Teil. S. 594. Stuttgart 1969.


Zunächst sollten wir uns vielleicht fragen, ob der im obigen Zitat favorisierte Luftweg immer die einzige Möglichkeit des Reisens darstellt: Vermutlich nicht.

I. Der Landweg
Die Tardigradenforscher Giuseppe Ramazzotti und Walter Maucci trauen den Bärtierchen immerhin eine Geschwindigkeit von bis zu 17 cm pro Stunde zu! Trotzdem wird der Landweg zu Fuß wohl die mühsamste und langsamste Verbreitungsstrategie sein.
Zum Landweg gehört allerdings auch die komfortable "Taxi"-Variante: Sämtliche größeren Tiere können, z.B im Fell Bärtierchen-Eier und Bärtierchen-Tönnchen (Trockenformen) transportieren und weit verschleppen.

II. Der Wasserweg
Auf salzwasserfeste, mit Hilfe von Sargassum-Algen über den Golfstrom   reisende Tardigraden  haben wir bereits in einem früheren Journal hingewiesen. Eine Verbreitung von terrestrischen Arten über Flüsse und Bäche erscheint gleichfalls plausibel. Nicht zuletzt werden Tardigraden in unseren neuzeitlichen Abwassersystemen häufig gefunden und zwar in quicklebendigem Zustand.

III. Der Luftweg
Ian M. Kinchin verweist auf Publikationen von Sudzuki und Wright, welche einen Windtransport oder sogar einen Lufttransport im vitalen Zustand, nämlich in kleinen, vom Wind verwehten Wassertropfen postulieren. Es braucht nicht viel Phantasie um zu erkennen, daß z.B. auch Vögel einen weiträumigen Lufttransport kleiner Partikel in ihrem Gefieder ermöglichen. Systematisch transportieren die Vögel komplette Moospolster für den Nestbau, wenn auch meist nur über kleinere Strecken.

Vegetabilien aller Art werden auch vom Menschen zunehmend auf dem Luftweg befördert. Wenn man ein wenig über die schon sprichwörtliche Orange aus Südafrika hinausdenkt, findet man weitere, recht moderne und originelle Lufttransportvarianten, aus denen wir eine einzige herausgepickt haben: Die Reise per ebay.

Wir haben alle ökologischen Skrupel unterdrückt und uns per Internet-Versteigerung bei Ebay ein "Flechten & Moospaket kanarischer Märchenwald Krippendeko" bestellt. Die spanische Briefmarke reicht uns als Beleg, daß die Moose nicht etwa doch aus Gelsenkirchen oder Dinkelsbühl stammen:


[ Briefmarke auf einem Brief mit Kanaren-Moos ]

Briefmarke auf einer Ebay-Sendung von den kanarischen Inseln.


Der Inhalt der Sendung hat uns gefallen ...


[ Flechten und Moose von den Kanaren ]

Per Internetauktion via Ebay bestelltes Moos- und Flechtensortiment. Knochentrocken

... auch bei genauerem Hinsehen:


[ Flechten und Moose von den Kanaren ]

Detailansicht vom Moos- und Flechtensortiment

Anmerkung: Erfahrungen mit anderen exotischen Moosen haben leider gezeigt, daß nicht immer Bärtierchen drin sind, auch wenn "Moos" draufsteht. Das unten abgebildete Fläschchen aus der Grabbelkiste eines Optikers war z.B. ein ziemlicher Flop:


[ Mikroskopie-Zubehör ]

Mikroskopie-Zubehör "Ceylon-Moos". Leider stellte sich nach der Wässerung beim Durchmustern unter dem Mikroskop heraus, daß die enthaltenen Moospflänzchen absolut steril waren. Nicht mal ein einziges Rädertierchen fand sich in der Probe  :-(


Zurück zu unserem Ebay-Moos: Es leben erfreulicherweise viele Bärtierchen darin, eines davon zeigen wir gleich hier und jetzt:


[ Heterotardigrade von den Kanaren ]

Heterotardigraden-Bärtierchen von den Kanaren. Körperlänge ca. 250 µm.


Der etwas ausgefallenere Rest folgt im nächsten Journal.



Literatur

H. Dastych: The Tardigrada of Poland. Warszawa 1988. 255 Seiten plus Abbildungsteil.

M. Sudzuki: An analysis of colonisation in freshwater microorganisms. II.
Two simple experiments on dispersal by wind. Japanese Journal of Ecology, 22 (1972) 222 - 225.

J.C. Wright: Anhydrobiosis in the Tardigrada. Diss., Universität Oxford, 1987.


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© Text und Fotos von  Martin Mach