Das Bärtierchen-Journal
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Von der Trockenstarre über das Koma zum Leben (die Asphyxie)

Das Leben der Bärtierchen erscheint uns Menschen als recht unsicher, vielleicht sogar brutal. Sie haben nun mal kein Haus, keine Höhle, keine Zivilisation und keine Gesetzgebung, welche ihnen Schutz bieten könnten.

Ihr Mikro-Universum besteht meist nur aus einem winzigen Wassertropfen. Wenn dieser austrocknet, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich mit Gottvertrauen in die absolute Passivität der  Trockenstarre  zu begeben.
Auf menschliche Verhältnisse übertragen, stellen wir uns einfach mal vor, wir müßten uns, von starken Schlaftabletten benebelt in einem recht unsicheren Großstadtviertel zum Schlafen auf die Straße legen!

Neben dem Wassermangel gibt es noch eine Reihe von anderen Ausnahmesituationen, insbesondere den durch Sauerstoffmangel bedingten Zustand der Asphyxie, welchen Ernst Marcus in seiner Bärtierchen-Bibel (siehe Literatur) wohl am treffendsten phänomenologisch beschreibt:

"Tardigraden, die eingetrocknet waren und wieder angefeuchtet werden, gehen entweder unmittelbar aus der Tönnchenform zur aktiven Lebenstätigkeit über, oder sie quellen zunächst, werden gestreckt und verbleiben in diesem   a s p h y k t i s c h e n   Z u s t a n d   eine ganz verschieden lange Zeit ..."

Hartmut Greven liefert in seinem, mittlerweile auch schon wieder klassischen Bärtierchenbuch (siehe Literatur) die kompakteste Erklärung:

"Anoxybiose tritt dann ein, wenn der Sauerstoffgehalt des Wassers für Bärtierchen eine gewisse kritische Schwelle unterschreitet.
Die Tiere strecken sich nach anfänglicher Kontraktion maximal (Asphyxie) und sind nicht mehr in der Lage, das in den Körper eindringende Wasser zu entfernen. Manche Arten sollen in diesem Zustand noch bis zu fünf Tage lebensfähig bleiben."


Den asphyktischen Zustand der Tardigraden erkennen wir an der völligen Körperstreckung, welche viele oder alle Tiere in einer Probe angenommen haben. Wie wir schon in einem älteren Journal gesehen haben, arbeiten die Muskeln der Bärtierchen gegen den Flüssigkeitsdruck im Körperinneren. Wenn nun alle Muskeln völlig entspannt sind, sieht das gewässerte Bärtierchen deshalb so ähnlich aus wie ein aufgeblasenes Gummi-Krokodil. Die drei folgenden Abbildungen illustrieren dieses Aussehen für typische Vertreter der Eutardigraden- und Heterotardigraden-Bärtierchen:


[ Bärtierchen; asphyktischer Zustand ]

Bärtierchen (Eutardigrade), im asphyktischen Zustand. Blick auf die Bauchseite.
Schräge Beleuchtung. Körperlänge ca. 400 µm.


[ Bärtierchen; asphyktischer Zustand ]

Ein weiteres Bärtierchen (Eutardigrade), im asphyktischen Zustand. Blick auf die Rückenseite.
Körperlänge ca. 500 µm.


[ Bärtierchen; asphyktischer Zustand ]

Bärtierchen (Heterotardigrade),
im asphyktischen Zustand.

Körperlänge ca. 250 µm.


Auch Bärtierchen, welche sich gerade im Häutungsstadium befinden, können in den asphyktischen Zustand geraten. Sie liegen dann, regungslos gestreckt, quasi eingefroren im jeweiligen Häutungsstadium, hier z. B. innerhalb einer schon weitgehend losgelösten, alten Hauthülle:


[ Bärtierchen; asphyktischer Zustand ]

Bärtierchen (Eutardigrade), im asphyktischen Zustand,
quasi während des Häutungsvorganges eingefroren.
Körperlänge ca. 350 µm.

Wir können sehr schön beobachten, wie das Bärtierchen bei Zutritt von frischem Wasser oder einer Erhöhung des Sauerstoffgehaltes erwacht. Sofort treibt es die Häutung weiter voran, indem es sich innerhalb der Hauthülle kräftig bewegt. Es bleibt keine Zeit zum Pausieren im Stile des  Homo sapiens ; die Häutung ist nun mal außerordentlich wichtig und muß zu Ende gebracht werden, damit sich die Tiere wieder frei bewegen können und nach Tagen der Abstinenz endlich etwas zu essen bekommen.


[ Bärtierchen; asphyktischer Zustand ]

Erwachen aus der Asphyxie (I).

Der Muskeltonus setzt wieder ein, wodurch sich das Bärtierchen sichelartig krümmt - die Mundöffnung zeigt nun nicht mehr geradeaus, sondern in Richtung Boden oder Himmel.

Bildbreite ca. 150 µm.


[ Bärtierchen; asphyktischer Zustand ]

Erwachen aus der Asphyxie (II).

Das Bärtierchen setzt den Häutungsvorgang fort. Deutlich zu erkennen: runder Eutardigraden-"Kußmund" und ein Auge.

Bildbreite ca. 150 µm.


[ Bärtierchen; asphyktischer Zustand ]

Erwachen aus der Asphyxie (III).

Das Bärtierchen setzt den Häutungsvorgang fort. Deutlich zu erkennen: Speiseröhre, kräftige, bogenförmig gekrümmte Stilette und zarte, elegant geschwungene Stilettfedern.

Bildbreite ca. 150 µm.


Wie Sie vermutlich auf der ersten Abbildung, ganz oben, gesehen haben, zeigen sich in der Asphyxie die Muskeln und Nerven besonders deutlich. Vergessen wir nicht, daß grundlegende Erkenntnisse zur Anbindung der Nerven an die Muskeln erstmalig - Sie werden es schon ahnen - bei den Bärtierchen gewonnen wurden.

Das Thema Muskeln&Nerven werden wir im Juli ein wenig vertiefen. Behalten Sie bis dahin selbst die Nerven und werden Sie nicht asphyktisch!



Literaturhinweise zum Thema Asphyxie:

Hartmut Greven: Die Bärtierchen. S. 61. Wittenberg Lutherstadt 1980.

Ian M. Kinchin: the biology of tardigrades. S. 83-84. London 1994.

Ernst Marcus: Bärtierchen (Tardigrada). S. 28-29. Jena 1928.



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© Text und Fotos von  Martin Mach