Bärtierchen: Zellgrenzen und Erkenntnisgrenzen |
Abb. 1: Mülltonnenhäuschen, im Vorzustand, Juli 2019. Dort hatten wir, wie in den Journalen von Februar bis April 2020 berichtet, reichlich unterschiedliche Bärtierchenarten gefunden, zum Beispiel das - im städtischen Bereich nicht weiter überraschende - gewalttätig-kannibalisch angehauchte Milnesium tardigradum, aber auch jede Menge der bereits erwähnten, attraktiv roten Echiniscus-Bärtierchen! |
Wir wollen nun keineswegs in modischer Manier auf Leute eindreschen, die trotz der Coronaviren nach wie vor in Urlaub fahren. Wie hieß es bereits vor der Krise doch schon so wunderbar kleinkariert: "Pfui, die wohnen zur Miete und fahren ins Ausland!". Allerdings bietet sich in Zeiten von Corona der Hinweis an, dass wir viele terrestrische Bärtierchen-Genera auch vor der Haustür aufsammeln können. Schließlich bestünde dann ja auch keine Gefahr, womöglich bei einem Großwildausflug zusammen mit der Geliebten hüftbrüchigerweise ertappt zu werden, wie es einem greisen Monarchen-Pechvogel vor einigen Jahren widerfuhr. |
Das wohlgenährte Ramazzottius-Weibchen vom Betondach hatten wir ja schon im letzten Journal gezeigt: |
Abb. 2: Bärtierchen Ramazzottius oberhaeuseri, aus einer vor der Radikalreinigung entnommenen Moosprobe vom Mülltonnenhäuschen. Körperlänge 0,3 mm und gut genährt! |
Zur grundsätzlichen Veranschaulichung der Ramazzottius-Anatomie greifen wir auf ein älteres Bild von Ramazzottius oberhaeuseri zurück, das im gestreckten, asphyktischen Zustand aufgenommen wurde: |
Abb. 3: Ramazzottius oberhaeuseri im sogenannten asphyktischen Zustand (ältere Aufnahme, hier nur zum Vergleich). Der asphyktische Zustand tritt auf, wenn beim Wässern einer Moosprobe, normalerweise durch zu hohen Anteil an erdigem Material, Sauerstoffmangel entsteht. Die Bärtierchen begegnen diesem Sauerstoffmangel durch Wechsel in den bewegungslosen, asphyktischen Zustand. In diesem sind die charakteristische Bänderung sowie die gleichfalls artcharakteristischen Einlagerungen im kugelförmigen Schlundkopf besser erkennbar als beim lebensaktiven Tier. Man sieht auch die langen Krallenäste und kann überdies nachvollziehen, dass Ramazzottius definitiv keine Augenpigmentflecken besitzt. |
Hier noch ein bislang so nicht gezeigtes, etwas stärker vergrößerndes Bild des Kopfbereichs von Ramazzottius oberhaeuseri und gleich anschließend, lediglich wiederholend, das immer leicht verstrubbelt wirkende Ei des Ramazzottius oberhaeuseri: |
Abb. 4: Kopfbereich von Ramazzottius oberhaeuseri. Bildbreite ca. 100 µm. |
Abb. 5: Ei von Ramazzottius oberhaeuseri (ältere Aufnahme). Hier sind die bereits fertig ausgebildete Mundröhre, die Stilette und die Stilettfedern erkennbar. Durchmesser ca. 70 µm. |
Mit etwas Glück und Fokussierfleiß können wir in der Epidermis (quasi der Hauthülle des Bärtierchens) die einzelnen Zellen samt ihren Zellkernen schön säuberlich aufgereiht studieren.
|
Abb. 6: Detail des Rückens von Ramazzottius oberhaeuseri. Lebendaufnahme. Bildbreite 180 µm. |
Wie Hartmut Greven in seiner Bärtierchen-Monographie sehr schön erläutert,
neigten die Spezialisten auch hier (wie üblich ;-) zum gestrengen Abzählen
und zur exakten Kartierung der Zellformationen auf Ober- und Unterleib der Bärtierchen.
Im Rahmen dieser akribischen Vermessungsarbeiten stellte man bei einigen Bärtierchenarten ein
sich immer wiederholendes, altersunabhängiges Epithelzellenmuster fest. Hieraus
ließ sich die Hypothese einer Bärtierchen-Zellzahlenkonstanz ableiten. Endlich mal
ein bißchen Ordnung in dieser chaotischen Natur! Leider gelang es dann
etwas später, wie ebenfalls Hartmut Greven berichtet, einem italienischen Forscher, aktive Zellteilungen
in diversen Gefäßen lebendiger Bärtierchen nachzuweisen, womit das
schöne Konzept der Bärtierchen-Zellzahlenkonstanz gleich wieder ruiniert war.
|
Abb. 7: Das hier gezeigte, neuzeitliche Mikrofoto
der Zellen im Weinflaschenkork steht für einen Klassiker der Wissenschaftsgeschichte
- die erste Dokumentation einer zellulären biologischen Struktur durch Robert Hooke (1635-1702). |
Falls Sie sich nun allerdings doch eher für die zellulären
Lebensvorgänge interessieren sollten, empfiehlt sich eine kurze Rückschau
auf die ersten Lebensstadien (erste Zellteilungen) des Bärtierchens:
|
Literatur
|
© Text, Fotos und Filme von Martin Mach |